Startseite
Kultur
Martin Meyer, bis 2015 Feuilletonchef der NZZ, erzählt von einem Buchhändler, der die Quarantäne mit Camus meistert.
Vor zwei Wochen warnte Literaturredaktor Martin Ebel im «Tages-Anzeiger» die Schriftstellergilde.
Verschont uns mit Corona-Romanen! Grosse Literatur braucht Zeit. Die besten literarischen Anverwandlungen welthistorischer Ereignisse sind in der Regel viele Jahre später entstanden.
Und: «Wer jetzt schon an einem Corona-Roman sitzt, hat zwar etwas erlebt, aber nicht begriffen, was er erlebt hat. Haltet euch zurück. Noch ein paar Jahre. Dann lesen wir euch gern!» Dicke Post – deren Warnung Autorinnen und Autoren wenig kümmern wird.
Sie wollen schreiben, wenn es ihnen danach ist, und haben eher selten den eitlen Anspruch, damit Weltliteratur zu produzieren. Die verordnete Wartefrist ist ja auch Quatsch. Schriftsteller müssen das aktuelle Zeitgeschehen nicht den Journalisten, Politikern und den sozialen Medien überlassen.
Nun ist seit einiger Zeit bekannt, dass der 68-jährige Martin Meyer, der von 1992 bis 2015 Feuilletonchef der «Neuen Zürcher Zeitung» war, an einer Corona-Erzählung schreibt – sein erstes rein fiktionales Buch.
Ein unausgegorener Schnellschuss? Das ist bei Martin Meyer unwahrscheinlich. Von einem, der umfangreiche Bücher über Albert Camus und Thomas Mann geschrieben hat (die in «Die Pest» und «Tod in Venedig» von Seuchen erzählen), kann man erwarten, dass er sich mit historischer und literaturgeschichtlicher Tiefe auskennt und nicht nur die Corona-Aktualität im Kopf hat.
Die Nachfrage bei Meyer bestätigt das sportliche Tempo:
Ich bin Anfang März eines Nachts mit dem Plot zu der Erzählung aufgewacht
, erzählt er, «mit der Geschichte des Matteo, einem Buchhändler in Norditalien, der mit sechs Büchern die Quarantäne zu bewältigen sucht.» Er habe am Morgen gleich mit dem Schreiben begonnen:
Nach zwei Kapiteln fand ich, das Geschriebene funktioniere und halte meinen eigenen Ansprüchen stand.
Die Hauptfigur Matteo sei zwar ähnlich alt wie er, die Liebe zur Literatur teilen beide. «Aber Matteo ist wohl etwas weniger reflektiert, dafür zugänglicher als ich», sagt Meyer – und durchs Telefon meint man, eine Portion Selbstironie zu hören. Schliesslich hat ihn die «Basler Zeitung» auch schon einen «Aristokraten unter der schreibenden Zunft, mehr Schriftsteller als Journalist» bezeichnet.
Aber die Frage drängt sich auf: Wie schafft man es, in sechs Wochen 200 Buchseiten zu füllen? «Einerseits verändert der Lockdown das Zeitgefühl komplett», erklärt er. «Meine langjährige Beschäftigung mit Albert Camus hat zudem wie ein Beschleuniger gewirkt.» Sein Verleger habe dann auf eine rasche Publikation gedrängt.
Auf die Skepsis gegenüber literarischen Schnellschüssen meint er nur: «Das muss jeder selbst wissen. Mir hat das Schreiben jedenfalls Spass gemacht.» Bloss als aktuellen Kommentar wolle er sein Buch schliesslich nicht verstanden wissen: «Für mich ist die Erzählung eher eine Metapher für solche Krisensituationen, eine Metapher, die über der Tagesunruhe steht.»
Mit einer Passage in «Corona» nimmt Meyer der Aktualitätskritik vorweg seinen Stachel: «Eine Zeit brauchte auch die literarischen Sekunden, die mittickten, um die Neugier zu befriedigen», lässt er Matteo denken. Solche relativierende Bescheidenheit im eigenen Anspruch hat in diesem Buch Methode. Meyer nennt «Corona» auch nicht Roman, sondern Erzählung. Und wenn man eine Krisenmoral aus dem Buch lesen will, so sind es Bescheidenheit und Tapferkeit. Beides zugleich jene Tugenden, die der Buchhändler Matteo (mit ihm wohl Meyer selbst) an Albert Camus bewundert.
Die drohende Seuche ist zwar aktualitätsnah geschildert mit Risikogruppen, leeren Strassen und Quarantäne. Und der ängstliche Matteo, seit dem Krebstod seiner Frau Witwer, bleibt mit Fieber zu Hause. Dort jedoch will er furchtlos dem Unausweichlichen ins Auge blicken, erinnert sich an Todes- und Isolationserfahrungen seiner Kindheit und macht sich in der Literatur auf Sinnsuche.
Findet er dort Trost oder noch grösseren Schrecken? Dass eine Seuche höheren Sinn habe, weist Matteo nach der Bibellektüre zurück, sieht in Defoes Pestbuch den Appell zur Vorsorge und findet bei Thomas Mann den Reiz der Todesergebenheit.
Meyer schreibt aus der Perspektive eines gutmütigen, leicht ironischen, allwissenden Erzählers und mit viel innerem Monolog seiner Hauptfigur. Traditionell besetzt er die Geschlechterrollen: Nichte und Nachbarin fürsorglich sozialkompetent, der Buchhändler vergeistigt introvertiert.
Literarisch ist «Corona» trotz subtiler und sinnlicher Beobachtungen kein grosser Wurf. Die gedankliche Dichte lässt dem erzählerischen Schwung wenig Raum. Seine Stärke zieht «Corona» aus dem zugänglichen Zwiegespräch mit Literatur. Nicht nur für Bücherwürmer ein anregendes Buch, das zur Selbstbeantwortung wesentliche Fragen stellt: «Hat jede Epoche die Seuchen, die sie verdient?» oder: «Unter welchen Umständen würdest du überleben wollen?»
Martin Meyer: Corona. Erzählung. Verlag: Kein&Aber. 208 Seiten