Donald Trump: Auch nach seiner Abwahl kehrt die Wahrheit nicht zurück

Mit der Ära Trump endet das postfaktische Zeitalter nicht. Das hat viel mit technologischen Entwicklungen zu tun – und mit dem neuen LSD.

Raffael Schuppisser
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Welcher Trump ist der richtige? Die technologischen Spiegeltricks machen die Wahrheitsfindung schwer.

Welcher Trump ist der richtige? Die technologischen Spiegeltricks machen die Wahrheitsfindung schwer.

Bild: Reuters

Die Präsidentschaft Trumps endet, wie sie begann: Als er seine letzte Rede in diesem Wahlkampf hält, reklamiert Trump den Sieg für sich, da viele Biden-­Stimmen illegal gewesen seien. «Gelogen!», halten die Medien entgegen. Schliesslich gibt es keine Anzeichen dafür, dass die von Trump bemängelten brieflichen Stimmen gefälscht sind. Das gleiche Muster zeigte sich vor vier Jahren, als er seine erste Rede als US-Präsident hielt: Trump behauptete, dass noch nie so viele Menschen einer Inauguration beigewohnt hätten. «Gelogen!», widersprachen die Medien. Schliesslich zeigten Bilder deutlich, dass bei seinem Vorgänger viel mehr Menschen anwesend waren.

Die letzten Jahre waren geprägt von «alternativen Fakten» – eine Wortschöpfung, die Trumps Beraterin ­Kellyanne Conway unmittelbar nach dessen Amtsantritt eingeführt hatte. Die Grösse einer Menge lasse sich nicht eindeutig messen, meinte sie. Und die Anzahl Stimmen, mag man heute hinzufügen, wohl nicht eindeutig zählen. «Gelogen!», schreien wir, die an die Demokratie glauben.

Doch wie war das schon wieder mit dem Poststrukturalismus? Die prägende Richtung der Philosophie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass die absolute Wahrheit nicht zu finden ist, dass alles eine Frage der Perspektive ist, dass es keine Fakten gibt, nur Interpretationen. Die Destruktion richtet sich gegen verkrustete Machtstrukturen und soll zeigen, dass die Welt auch eine andere sein könnte: eine liberalere, eine, in der Gedanken frei sein können, neue Realitäten zu schaffen, fernab von den eta­blierten Konventionen.

Trump ist Dekonstruktionismus mit dem Holzhammer

Es ist eine bitterböse Pointe dieser Philosophie, dass im 21. Jahrhundert plötzlich ein grobschlächtiger Zeitgenosse mit rassistischen Tendenzen an den Machthebeln sitzt, der wohl nie einen Text von Derrida, Foucault, Deleuze oder einem anderen Poststrukturalisten linksliberaler Prägung gelesen hat, aber mit derselben Entschiedenheit die Fakten negiert. So war das nicht gemeint. Wir wollten das eigentlich immer bloss, wie Jacques Derrida in seinem paradigmatischen Aufsatz «Différance» schreibt, als «Spiel» verstehen. Dass einer auf diese Weise Ernst mit der Auflösung der Wahrheit macht, war nicht vorgesehen.

Klar, während Derrida und Co. die Wahrheit mit Eleganz dekonstruieren, zertrümmert sie Trump mit dem Holzhammer. Umso effektiver ist er damit. Trump hat uns ins postfaktische Zeitalter geführt.

Endet das mit seiner Abwahl? Dass es in der amerikanischen Politik mit Joe Biden als Präsident wieder gesit­teter zu- und hergeht, soll nicht heissen, dass «alternative Fakten» aus der Welt verschwinden. Ein wesentlicher Grund, warum Trump so erfolgreich war, liegt in der Rolle der sozialen Medien und der Macht der Algorithmen. Auf Facebook und Co. grassieren nicht nur viel mehr Fake News als in traditionellen Medien, sie werden auch zielgruppengerecht ausgespielt. Jeder bekommt das, was er will. Die Filterblase führt dazu, dass Trump-Anhänger, Corona-Skeptiker oder auch Linksextreme die Welt im Internet so präsentiert bekommen, wie sie für sie stimmig ist; andere Informationen werden weggefiltert. Die Wahrheit ist, was man wahrhaben will.

Deep Fakes: die Pornomethode in der Politik

Der neue Umgang mit der Wahrheit resultiert also auch in der Etablierung der neuen Medien. Und die technologische Entwicklung könnte dieser geteilten Sicht auf die Welt weiter Vorschub leisten. Im Internet ist den eigenen Augen immer weniger zu trauen. Sogenannte Deep Fakes sorgen dafür, dass mit Hilfe von künstlicher Intelligenz Gesichter in Videos mit jenen von anderen Personen ersetzt werden können. Und so werden etwa auf den einschlägigen Pornoseiten Emma Watson oder Scarlett Johansson penetriert, obwohl sie sich natürlich nie für solche zwielichtige Zwecke ausgezogen haben. Die Pornografie ist von jeher einer der wichtigsten technologischen Treiber. Sie konnte der Videokassette und dem Pay-TV zum Durchbruch verhelfen. Auch die Wirkung von Deep Fakes wird sich nicht auf schlüpfrige Websites begrenzen.

Wenn Biden stotternd den Krieg gegen Russland erklärt oder Merkel mit perfekt geformter Raute-Geste den Austritt aus der WHO verkündet, könnte das ungeahnte Folgen haben. Und auch wenn das Heer von Fakten-Checkern die Lügenvideos entlarven wird, so werden sie nicht durch all die Filterblasen in den sozialen Medien dringen. So bekommt jeder die ihm willkommenen Fakten präsentiert, und an die Stelle einer Wahrheit treten viele Wahrheiten. Dabei muss der Umweg einer komplexen Dekon­struktion der Realität nicht gegangen, sondern bloss das Handy in die Hand genommen werden.

Was im Internet seinen Anfang nimmt, weitet sich aus in die reale Welt, da sich digitale und analoge Realität immer stärker überlagern. Wer seinen Weg durch die Stadt sucht, blickt heute schon mehr auf die Navigations-App seines Handys als auf die Wegweiser in den Strassen. Wer auf seinem Smartphone das Spiel «Pokémon Go» gestartet hat und über Kameralinse und Display in die Welt sieht, der bekommt es mit lauter lustigen Mini-Monstern zu tun, die einem ebenso auf dem Trottoir wie auf der Toilette begegnen. Die sogenannte Augmented Reality (erweiterte Realität) führt zur Verschmelzung von Digitalem und Analogem und dazu, dass jeder die reale Welt anders sieht.

Perfekt ist diese Technologie freilich erst, wenn die Monster nicht mehr über das Smartphone-Display wahrgenommen, sondern dank Augmented-­Reality-Brillen oder -Linsen direkt in das Sichtfeld projiziert werden. So wie heute die Personalisierungsalgorithmen dafür sorgen, dass jeder durch ein anderes Internet surft – egal ob er Amazon, Facebook oder Netflix besucht –, so könnten die Brillen dazu führen, dass in Zukunft jeder durch eine andere Realität spaziert. Personalisierte Werbeplakate für Konsumgüter oder politische Kampagnen sind da nur das Naheliegendste.

Wie weit man die virtuelle Neugestaltung der Realität treiben kann, zeigt der polnische Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem in der Erzählung «Der futurologische Kongress» (1970). Es geht darin um eine Wahrnehmungsverschiebung, die dazu führt, dass eine her­untergekommene Welt als Luxusoase wahrgenommen wird. Am Ursprung steht eine halluzinogene Sub­stanz, genannt Psychemie, die einzelne Gegenstände präzis vortäuschen kann. Die Cyberbrille erzielt denselben Effekt; sie spielt den Sinnen etwas vor, das gar nicht da ist. Der Hippie-Guru Timothy Leary persönlich hat schon vor Jahrzehnten auf diese Nähe hingewiesen und bezeichnete Virtual Reality als «das neue LSD».

Das Ende des Binärzeitalters und die fragile Gesellschaft

Wenn jedes Objekt, das wir wahrnehmen, gleichzeitig ein anderes sein kann, führt dies vollends zu einer Auflösung der Realität. Dass etwas gleichzeitig eins oder null sein kann, übersteigt unsere Vorstellung. Genau dies aber ist das Paradigma einer neuen Informatik, des Quanten-Computing. Anders als bisherige Rechner arbeiten Quantencomputer nicht mit Bits als kleinste Informationseinheiten, sondern mit Quantenbits. Die Q-Bits können gleichzeitig eins oder null sein und Zustände dazwischen annehmen. Damit spiegelt sich auf der atomaren Ebene der Informatik das grosse Paradigma unseres Zeitalters

Weil so verschiedene Rechnungen parallel ausgeführt werden können, arbeiten die Quantencomputer viel schneller als binäre Rechner. Letztes Jahr hat Google einen Quantencomputer vorgestellt, der eine komplexe Aufgabe in 200 Sekunden gelöst hat, für die der schnellste bisherige Superrechner angeblich 10000 Jahre benötigen würde. Damit sei die Quanten-Überlegenheit erreicht, frohlockte CEO Sundar Pichai. Es klang, als riefe er ein neues Zeitalter aus. Ein Zeitalter, in dem wir damit zurechtkommen müssen, dass etwas gleichzeitig wahr und falsch sein kann. Das klingt nach einer Welt in einem äusserst fragilen Zustand, die stehts der Gefahr ausgesetzt ist, zu kollabieren. Und in der Tat sind Quantencomputer eine äusserst diffizile Angelegenheit. Q-Bits haben nämlich nur auf dem absoluten Nullpunkt bei minus 273,15 Grad Celsius Bestand und drohen ständig in sich zusammenzufallen.

Bei so viel Abgehobenheit ist ein bisschen Erdung willkommen. Und sie könnte wiederum in der Philosophie zu finden sein. Eine aufkommende Strömung unserer Zeit ist der Neue Realismus, wie ihn beispielsweise der Deutsche Markus Gabriel vertritt und der als Gegenbewegung zum Poststrukturalismus verstanden werden kann: Tatsachen werden nicht bestritten, Fakten zählen wieder als Fakten und nicht einfach als Interpretationen. Ein halbes Jahrhundert nach der Postmoderne scheint die Sehnsucht nach festem Halt so gross wie damals die Befreiung aus zu engen Strukturen.