Die St.Galler Bach-Stiftung bleibt bis Ende 2020 virtuell: «Das Streaming muss einen Mehrwert bieten», sagt ihr künstlerische Leiter

Die bekannten Bach-Kantaten in Trogen gibt es bis Ende Jahr nicht. Der St.Galler Musiker und künstlerische Leiter der St.Galler J.S.-Bach-Stiftung, Rudolf Lutz, hat während Corona aber auch seine einsiedlerische Seite entdeckt. Das Komponieren hat seine Zeit des Lockdowns geprägt.

Martin Preisser
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Rudolf Lutz hat in Coronazeiten intensiver komponiert.

Rudolf Lutz hat in Coronazeiten intensiver komponiert.

Bild: Nik Roth

Man hat sich an das feste Ritual gewöhnt, monatlich in Trogen eine Bach-Kantate auf sehr hohem Interpretationsniveau zu hören. Seit 2006 mit rund 140 Aufführungen. Geplantes Ende des Mammutprojekts ist 2027. Corona hat der St.Galler J.S.-Bach-Stiftung bis Ende Jahr jetzt eine Zwangspause auferlegt. Statt Livekonzerten gibt es seit März einmal im Monat einen Livestream aus der evangelischen Kirche Stein AR. Mit diversen Themen rund um die Bach’sche Aufführungspraxis.

Ein Format, das dem künstlerischen Leiter der Bach-Stiftung, Rudolf Lutz, entgegenkommt. Hier kann er sein Können als Improvisator voll ausleben. So wirken diese Streams auch durch die Spontaneität, mit der Lutz sein Wissen einer inzwischen riesigen, auch englisch und spanisch sprechenden Social-Media-Anhängerschaft vermittelt - gestern Abend zum spannenden Thema Improvisation selbst. Streaming dürfe nicht einfach eine Kopie eines Liveanlasses sein, auch nicht nur ein Gag. «Es muss einen Mehrwert bieten», sagt der 69-jährige Musiker, der an dieser Präsentationsform durchaus Gefallen gefunden hat. Gut aufgelegt und launig-humorvoll hat er sich etwa am gestrigen Anlass, moderiert vom Geschäftsführer der Bach-Stiftung, Xoan Castineira, zu den vielfältigen Facetten der Improvisationskunst an Keyboard und Orgel verführen lassen.

«Ich muss es beim Livestreaming sofort auf den Punkt bringen, muss noch konzentrierter der sein, der ich bin.»

So formuliert es Rudolf Lutz. «Streaming braucht sehr viel künstlerisches Antriebsaggregat.» Mehrwert heisst für ihn: spannende Zugänge zum Thema finden, überraschende Querverbindungen herstellen. Und: «Streaming muss berühren, belehren und unterhalten», fasst er es mit schon im Mittelalter gedachten Begriffen zusammen.

Für die Bach-Stiftung wäre 2020 das internationalste Jahr in ihrer bisherigen Geschichte geworden. Letzten Montag etwa wäre Rudolf Lutz mit seinem Orchester, Chor und Solisten in der Leipziger Thomaskirche mit Bachs «Johannespassion» engagiert gewesen. Im Mai hätte man sich mit vier Kantaten im Wiener Konzerthaus präsentieren können.

«Corona hat zu einer Gemengelage geführt, die psychisch schon auch fordert.»

So äussert sich der vielseitige Musiker über die letzten Wochen. Er habe aber seine einsiedlerische, seine «klausnerische Seite» entdeckt: die Ruhe, das Beobachten, wie die Natur erblühe, Lesen. Und immer wieder neu Bach studieren, von dem Lutz inzwischen zu wissen meint, was dieser wolle. Und Komponieren. Corona hat ihn verstärkt dazu angeregt. Und darüber nachzudenken, was der eigene, Lutz’sche O-Ton denn bedeuten könne: Die eigene innere musikalische Welt beim Schreiben neuer Werke auf den Punkt zu bringen.

«Es ist, wie wenn einem ein Vogel begegnet»

Eine gelungene Komposition ist für Rudolf Lutz eine, in der punktuell Ideen aufscheinen, in denen man die eigene Musik als konzentriert, als stimmig erlebt. «Das ist ein Moment, den ich damit vergleiche, wenn mir überraschend etwa ein Rotkehlchen begegnet. Es ist da, prägt den Moment und verschwindet gleich wieder.» Auf Lutz’ Pult liegen aktuell Ideen für ein Concerto für zwei Violinen, Viola, Cello, Fagott und Basso Continuo. Ein Auftragswerk für das Bach-Fest Leipzig 2021. «Hier interessiert mich, wie ich die längere Form bewältige. Meine Erfahrung als Bach-Interpret hilft mir, die Frage der Übersicht über formale Zusammenhänge immer besser zu beherrschen», sagt Lutz.

Kurz vor Corona ist zudem ein Zyklus mit sieben Vertonungen von Eichendorff-Gedichten entstanden. Dass er auch im romantischen Stil eine eigene musikalische Sprache immer wieder herausspürt: Die Befriedigung darüber ist Rudolf Lutz in diesen Sabbatzeiten anzumerken.

Hinweis

www.bachstiftung.ch/ livestream
(erneut am 21.8.)