WIL. Nicole Bosshard führt ein «Doppelleben»: Tagsüber ist sie beim Kanton Menschen auf der Spur, die es mit dem Steuerzahlen nicht so genau nehmen, abends schlüpft sie in die Rolle der Opernsängerin. Ihr Spagat wirkt entspannt.
So natürlich, wie sie sich im Gespräch und beim Fotoshooting gibt, redet sie auch über ihr wichtigstes Kapital, ihre Stimme. «Sie ist einfach eine Gottesgabe», sagt Nicole Bosshard, «und es ist ein grosses Glück, dass mein Sopran bei den Menschen so gut ankommt.» Ganz locker scheint sie auch zwischen Beruf und Berufung zu switchen. Die 43jährige Wilerin («Ich bin ein Wiler Urgestein») verdient ihr Geld als Steuerkommissärin beim Kanton St. Gallen, wo sie in einer 100-Prozent-Stelle als Teamleiterin Steuersündern auf der Spur ist. «Mein Job hilft mir sogar bei der Opernarbeit», sagt Nicole Bosshard, die aktuell in Wil als Violetta in Verdis «La Traviata» auf der Bühne steht. «Im Büro kann ich abschalten. Die Arbeit auf dem Steueramt ermöglicht mir einen Gedankenwechsel. Ich bekomme wieder einen freien Kopf und muss nicht unablässig an meine Auftritte denken.»
«Bravourös trägt ihr Sopran durch Höhen und Tiefen der <Traviata>; flexibel und intensiv gestaltet Nicole Bosshard die Rolle der unglücklich liebenden, schwindsüchtigen Kurtisane», lobte unsere Zeitung ihren Premierenabend. Nicole Bosshard ist beim Musiktheater Wil seit Jahren eine feste Grösse und dort heute inzwischen die einzige Sängerin ohne Diplom. Seit zwanzig Jahren bildet sie ihre Stimme aber bei renommierten Sängerinnen und Sängern aus. Einer ihrer berühmtesten Lehrer war Francisco Araiza, bei dem sie in Liechtenstein einen Meisterkurs besucht hat.
Einen sicheren Brotjob zu haben, entlaste auch. «Meine Profi-Kollegen müssen sich dauernd um neue Engagements bemühen. Ich kann das entspannter angehen.» Nicole Bosshard gibt aber auch zu, dass sie wegen ihres fehlenden Diploms oft nicht zum Vorsingen eingeladen werde. «Ich hätte schon manchmal noch gerne mehr Engagements», sagt sie. Momentan sind es zwei, drei Auftritte pro Monat, nicht nur beim Musiktheater Wil, sondern auch in Kirchenkonzerten oder mit Wiener Musik mit dem Trio Musica Arte Vienna.
Auch das, was Nicole Bosshard übers Einstudieren der sehr anspruchsvollen Rolle erzählt, klingt recht unbeschwert. «Viele Partien lerne ich im Fitnessstudio, wenn ich auf dem Crosstrainer sitze.»
Auf der Bühne selbst laufe vieles fast unbewusst ab. «Wenn ich auf der Bühne stehe, nehme mich mich als Bühnenfigur eigentlich gar nicht so richtig wahr. Ich steige aber jeweils mit einem Grundgefühl in die Rolle ein. Zum Beispiel mit der Idee: Als Violetta bin ich selbstbewusst, jeder will mich. Dann lasse ich die Partie laufen. Während des Singens habe ich dann eigentlich keine Zeit, über den Charakter der Figur nachzudenken.» Die Figur der Violetta begeistert sie. «Verdis <Traviata> ist wie für mich und meine Stimme geschrieben.»
Als «warm» bezeichnet Nicole Bosshard ihre Stimme selbst. «Und wenn ich nach der Aufführung Menschen mit Tränen in den Augen sehe, oder das Kompliment erhalte, ich könne mit den grossen Opernstars locker mithalten, dann sind das die wunderbaren Glücksmomente meines Sängerinnen-Daseins.»
Eher psychologisch wirke ein kleines Ritual, ohne das sie nie auf die Bühne gehe: «Ich habe beim Singen immer ein Hustenbonbon im Mund», erzählt Nicole Bosshard. «Und auf der Wasserflasche hinter der Bühne kleben auch meine Bronchialpastillen», verrät sie. Weggeblieben sei ihr die Stimme aber noch nie. So überraschend wie ihre Kombi Steuerkommissärin und Opernsängerin sind auch die Hobbies der eher zierlichen Wiler Primadonna. In ihrer Freizeit ist sie begeisterte Taucherin und fährt Motorrad, eine Yamaha mit 600 Kubik. Nächster Trip ist im Juni eine Sardinien-Rundfahrt.
Bis 28. März, Tonhalle Wil; Nicole Bosshard ist in der Titelpartie am 7., 8., 14., 20., 21. und 28. März zu hören; www.musiktheaterwil.ch