Irène Schweizer wird am 2. Juni ihren 75. Geburtstag feiern können. Die nonkonforme Schweizer Pianistin wird zuvor am Jazzfestival in ihrer Geburtsstadt Schaffhausen mit mehreren Konzerten gefeiert. Und es wird eine voluminöse, aber enttäuschende Biographie vorgestellt.
Zu ihrem 70. Geburtstag trat Irène Schweizer 2011 in der Zürcher Tonhalle auf; sechs Jahre zuvor war sie bereits in einem anderen Tempel des Kulturbürgertums, dem KKL in Luzern, umjubelt worden (beide Konzerte gibt es auf CD). Und so wurde die Jazzpianistin vom «Tages-Anzeiger» mit einem leicht maliziösen Unterton gefragt, ob sie zum 75. Geburtstag im Opernhaus Zürich spielen werde, worauf diese unmissverständlich antwortete: «Nein, bestimmt nicht. Diese Hochkultur brauche ich nicht, schon gar nicht die Oper, die ist der Horror.»
Tatsächlich kehrt Irène Schweizer zu ihrem 75. Geburtstag an den Ort zurück, wo sie als Tochter eines hart arbeitenden Wirteehepaars auf die Welt gekommen ist. In Schaffhausen findet alljährlich ein Festival statt, dessen Fokus auf Schweizer Jazz gerichtet ist. Heuer treten auf der Hauptbühne mit einer einzigen Ausnahme ausschliesslich Bands auf, die von Frauen geleitet werden. Da darf die lesbische Feministin Schweizer natürlich nicht fehlen: Ihr ist ein ganzer Abend gewidmet, den sie mit einem Solorezital beschliessen wird. Dazu kommen zwei Wunschkonzerte: Mit der französischen Bassistin Joëlle Léandre wird eine langjährige enge Weggefährtin Schweizers die Bühne als Solistin entern – mit dem Trio Les Diaboliques haben Schweizer, Léandre und die britische Sängerin Maggie Nicols auf atemberaubende und subversive Weise bewiesen, dass radikale Feministinnen durchaus Humor haben können. Léandre ist nicht zuletzt für theatralische Einlagen bekannt, die zuweilen hysterischen Anfällen ähneln; sie ist aber auch eine unglaublich vielseitige Kontrabassvirtuosin, die im Gegensatz zur Autodidaktin Schweizer auch im Bereich der komplex notierten Neuen Musik bewandert ist.
Mit ihrem zweiten Wunschkonzert unterstreicht Schweizer ihre unbestechliche Unabhängigkeit: Erstens ist Saxophonist Domenic Landolf ein Mann und zweitens zählt er nicht zu den üblichen Verdächtigen, die sich in Schweizers Umfeld tummeln. Im Programmheft liefert Schweizer die Begründung für die Wahl: «Ich bin relativ häufig in Basel und habe ihn mehrmals im <Bird's Eye> gehört. Sein Spiel hat mir immer sehr gut gefallen – es hat etwas Elegantes, wirkt nicht verklemmt, sondern selbstverständlich. Sein Sound auf dem Tenorsax ist wunderschön. Ich habe wahnsinnig Respekt vor seinem Können, er swingt und kann wirklich Jazz spielen, auch ganz komplizierte Bebop-Stücke.» Landolf wird im Trio mit Patrice Moret (Bass) und Dejan Terzic (Schlagzeug) auftreten.
Seit über zehn Jahren wird das Schaffhauser Jazzfestival von einer Gesprächsreihe begleitet. In diesem Rahmen wird auch die voluminöse Schweizer-Biographie des Berliner Autors Christian Broecking präsentiert. Vom harmolodischen Visionär Ornette Coleman, der zu Schweizers Lieblingsmusikern zählt, stammt folgendes Bonmot: «Alles ist miteinander verbunden. Wir brauchen nur die richtige Nadel für den Faden zu finden.»
Christian Broecking hat diese Nadel nicht gefunden: Die Lektüre gestaltet sich ziemlich frustrierend, weil man sowohl narrative Süffigkeit als auch analytische Stringenz vermisst. Dass es anders geht, zeigen Olivier Senn und Toni Berchtold im selben Buch mit aufschlussreichen, leider viel zu kurzen «Beobachtungen und Gedanken zur Musik von Irène Schweizer». Während Broecking seiner Zitierwut auf über 370 Seiten frönen kann, müssen sie sich mit mageren 11 Seiten begnügen.
Broecking hat keinen Text abgeliefert, sondern eine Collage zumeist langer Zitate, die zu oft im geschwätzigen Plaudermodus daherkommen – für das Buch wurden über 60 Personen interviewt. Ein Zitatensalat ohne Sauce respektive ein Text ohne Reflexion. Ein paar Müsterchen: Der Musiker Rüdiger Carl berichtet: «Sie konnte über meine Witze lachen, ich konnte mir ihren Krempel anhören, wir waren einfach d'accord und hatten keine Probleme mit Schwanz und Pussy.» Patrik Landolt, der Schweizers Œuvre auf Intakt Records auf exemplarische Weise kuratiert, reiste mit der Pianistin in den 1980er-Jahren durch die DDR, wo es manch brenzlige Situation mit Humor oder Hartnäckigkeit zu meistern galt: «Wir haben über die Reisesituationen und kulinarischen Höhepunkte, die wir erlebten, viel gelacht. Vor allem nach den Konzerten irgendwo eine abgefuckte Hotelbar auftun, wo man noch einen süssen Sekt trinken konnte. Das waren spannende Zeiten.» Ein über vierseitiger Monolog der Schauspielerin Nikola Weisse endet mit dem denkwürdigen Satz: «Dann sagt Irène, wenn du mit dem Broecking fertig bist, könnten wir ja einen kleinen Apéro nehmen oder so.» Tatsächlich gibt es in Schaffhausen nach der Buchvernissage einen Apéro. Die Konzerte für und mit Irène Schweizer sind am 26. Mai.
Christian Broecking: Dieses unbändige Gefühl der Freiheit: Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik; erscheint Ende Mai