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Kultur
Pädu Anliker, der letzte Woche verstorbene Betreiber des Cafés Mokka, hätte heute den Thuner Kulturpreis entgegennehmen dürfen. Ein Nachdenken über die Bedingungen von Bühnenkunst in der Deutschschweiz.
«Furt! Use! Wägg! Fahr ab mit däm Teppech!», der Mann, der das sagte, stand am Mischpult des Cafés Mokka in Thun und unterstrich seine Worte mit expressiven Handbewegungen. Er war an diesem Abend wie so oft gleichzeitig Koch, Soundmischer, Gastgeber und Bühnendekorateur. In dieser letztgenannten Funktion wollte er nicht akzeptieren, dass der Teppich des Schlagzeugers farblich nicht zu den frischen Blumen passte, die er zur Verschönerung der Bühne hergerichtet hatte. Und als der angesprochene Schlagzeuger beteuerte, er könne aus klanglichen Gründen unmöglich auf den Teppich unter dem Schlagzeug verzichten, besorgte ihm der Hausherr höchstpersönlich einen anderen, schöneren Teppich.
Während Jahrzehnten war Pädu Anliker, auch MC-Anliker genannt, für regionale, nationale und internationale Bühnenkünstler eine Institution. Pädu war kein Softie. Wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er es meist laut und ohne Umschweife. Doch wer ihn kannte, merkte sehr rasch, dass sich hinter der rauen Schale ein butterweicher Kern verbarg. Seine Liebe zum Detail, seine Fürsorglichkeit, sein nie nachlassendes Interesse an Musik und Literatur sowie seine Treue zu den Künstlern haben ihn schon zu Lebzeiten weit über Thun hinaus zur Legende gemacht.
Als letzte Woche sein unruhiges Herz zu schlagen aufhörte, suchten seine Freunde und Bekannten gegenseitigen Trost in verzweifelten Telefongesprächen. Mir selbst ging es nicht anders. Als könnte das Unfassbare dadurch fassbarer werden, dass wir möglichst viele Geschichten über Pädu austauschen, telefonierte ich stundenlang mit Weggefährten des Verstorbenen. Dabei weinten manche altgediente Rockmusiker wie kleine Kinder.
Die Erinnerung an den Mann, der für mehrere Generationen von Ausgehwilligen und von Bühnenkünstlern die Bühne bereitete, muss weiterleben. Und auch was Anliker in den letzten ungefähr dreissig Jahren aufgebaut hat, darf nicht mit ihm sterben. Dass das Café Mokka dennoch nie mehr so sein wird, wie unter der Leitung des charismatischen MC, ist allen klar.
Musiker, Autoren, Kleinkünstler und überhaupt alle, die durch das Land ziehen, um sich mit ihren Programmen den Lebensunterhalt zu verdienen, sind auf Menschen wie den unersetzlichen Pädu Anliker vom Café Mokka angewiesen. Die unzähligen Clubs, Kellerbühnen und Kulturhäuser, die zur einmaligen kulturellen Vielfalt des Landes beitragen, könnten nicht existieren, gäbe es nicht überall Menschen, die ihre Kraft und ihre Persönlichkeit in den Dienst der Kunst stellen.
Nicht alle, die Abend für Abend irgendwo in der Schweiz Lampen richten, Töne regeln, Garderoben betreuen, Plakate aufhängen, Gäste begrüssen, Bier zapfen oder Künstler bekochen, sind so legendär wie der MC aus Thun. Manche Kulturhäuser werden von Vereinen betrieben, andere gehören der jeweiligen Gemeinde und wieder andere, wie etwa die unvergleichliche Mühle Hunziken, stehen unter der Leitung von Privatpersonen. Was jedoch alle Betreiberinnen und Betreiber solcher Häuser gemeinsam haben, ist ihr selbstloses Engagement für eine Sache, die sich nur schwer in konkreten Zahlen ausdrücken lässt. Kultur veranstalten, ist in aller Regel kein einträgliches Geschäft. Es braucht dazu dieses heilige Feuer, das kaum einer so lange am Brennen hielt, wie der allseits betrauerte Mokka-Pädu.
Uns Reisenden in Sachen Kunst, die wir Woche für Woche mehrmals an die Tür eines Kulturhauses klopfen, ist zuweilen gar nicht richtig bewusst, wie sehr wir auf die Dienstwilligkeit der Veranstalter angewiesen sind. Müssten wir allein von den Einnahmen der jeweiligen Abendkasse leben, wären viele von uns wohl längst verhungert. Neben den öffentlichen Subventionen ist das häufig unbezahlte Engagement des Kulturpersonals die grösste Unterstützung, die wir Anspruch nehmen.
Veranstalter sind meist Getriebene. Ihr Antrieb ist die Neugierde. Sie sind auf der ständigen Suche nach künstlerischen Darbietungen, die den Ansprüchen ihres Hauses, ihres Publikums und ihres eigenen Geschmacks genügen. Nicht selten besuchen sie Künstlerbörsen und andere Kulturhäuser, um sich über das kulturelle Angebot auf dem Laufenden zu halten. Daneben bearbeiten sie unzählige Anfragen. Sie hören sich durch den Dschungel musikalischer Neuerscheinungen und lesen sich durch Berge von Büchern und Projektbeschrieben. Dabei sind sie immer bemüht, das labile Gleichgewicht zwischen ihrem künstlerischen Anspruch und finanziellen Sachzwängen ihres Hauses zu halten.
Mir ist keine Weltgegend bekannt, die eine derartige Dichte an Auftrittsmöglichkeiten für Musik und Bühnenkunst aufweist, wie die Deutschschweiz. Es gibt hier kaum ein Dorf, an dem nicht mehr oder weniger regelmässig kulturelle Veranstaltungen angeboten werden. Dass es dafür – neben dem politischen Willen, nicht alles tot-zusparen – die Bereitschaft vieler braucht, selber aktiv zu werden, geht viel zu oft vergessen. Professionelle und ehrenamtliche Kulturveranstalter leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, dass unser Land lebenswert ist und hoffentlich bleibt.
Pädu Anliker hatte die Angewohnheit, die Menschen in seiner Heimatstadt direkt anzusprechen. Wenn er beispielsweise in einem Lokal die Zeitung las und dabei auf etwas stiess, das ihn bemerkenswert dünkte, konnte es vorkommen, dass er Unbekannte am Nebentisch in ein angeregtes Gespräch verwickelte. Sein Interesse galt nicht bloss seinem Arbeitsplatz, sondern seinem gesamten Lebensumfeld. Diese Sichtweise können wir uns alle zum Vorbild nehmen. Sie ist wohl das wichtigste Vermächtnis eines Menschen, der stellvertretend steht für all die unzähligen Frauen und Männer im Land, die unsere Kultur täglich am Laufen halten.