Iran - Frauenfeld, die vielen Heimaten des Autors Usama Al Shahmani

Flucht aus dem Irak, Ankunft in der Schweiz, Fussfassen. Im Gespräch erzählt der Frauenfelder Schriftsteller von seiner ­Zerrissenheit zwischen zwei Welten, von Diktatur und Freiheit – und warum er Bäume über alles liebt.

Dieter Langhart
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Usama Al Shahmani (Bild: PD)

Usama Al Shahmani (Bild: PD)

Usama, gertenschlank und hochgewachsen, überragt alle, nur die Bäume überragen ihn. Sie haben Wurzeln, er hat neue Wurzeln schlagen müssen, 2002, als er vor dem Regime aus dem Irak fliehen musste. Wenig später wurde Saddam gestürzt. Usama kam hier an, überfordert und traurig. Welche Fläche konnte er sich nehmen? «Du bist kein Schweizer, das ist das Problem.» B-Ausweis, heuer hielt er die 1.-August-Rede in Appenzell. «Wie kannst du dazugehören, nicht nur akzeptiert werden?» Er hat arabische Literatur studiert und acht Bücher verfasst, hier kniete er sich in die deutsche Sprache, weil nur sie hilft, sich zu integrieren.

Ein Leben zwischen zwei Kulturen? «Es gibt kein Zwischen, mein Leben liegt in der Fremde», sagt Usama Al Shahmani ernst und lacht in der nächsten Sekunde wieder dieses unerschütterliche Lachen, zeichnet Wörter und Welten mit seinen grossen Händen. «Was lindert die Fremde? Jemand hört dir zu und macht dich zugehörig.» Freundschaft brauche kein Geld, keine Zeit, sondern dass du dazugehörst.

Kaum Hoffnung, dass sein Bruder noch lebt

Usama lebt! Er schreibt und übersetzt ins Arabische, Thomas Hürlimanns «Fräulein Stark» oder Friedrich Schleiermachers «Über die Religion». Er arbeitet wie seine Frau Nada, die im Thurgau aufgewachsen ist. Ythar (12) und Yara (3) sind hier geboren, Usama versteht den Dialekt inzwischen. Er hat Freunde gefunden. Und er trägt eine schwindende Hoffnung in sich: dass sein Bruder Ali noch lebt. Als Usamas Asylverfahren lief, verschwand Ali spurlos aus Bagdad. Usama plagten Schuldgefühle, doch hier waren ihm die Hände gebunden. Und er schrieb sein zweites Buch über Ali, die Diktatur, die Bäume (siehe unten).

Warum hat Usama die Geschichte von Ali aufgeschrieben? «Ich wollte ihm Licht schenken, wollte ihn am Leben lassen – und das geht nur in der Literatur. Die Sprache ist mehr als Buchstaben. Sie ist ein Lebewesen, das gedemütigt und instrumentalisiert werden kann.» Usama sieht sich als Teil eines Projekts, das Licht in den Irak bringt. «Ich habe Ali aufgegeben, aber nicht die Hoffnung auf das Licht.» Und Usama sagt Sätze wie «Ein Fluss bleibt, das Wasser nicht» oder «Es gibt keinen Schlag, der uns stärker macht».

2017 reiste er in den Irak, besuchte Familie und Verwandte, suchte nach einer Antwort auf die Frage: Wo ist der Irak jetzt? «Es ist schrecklich, es verschlägt dir die Sprache», sagt er. «Wie kann ich in meinem Buch etwas Unvorstellbares vorstellbar machen?» Er trifft alte Freunde, aber worüber sollen sie reden nach fast zwanzig Jahren, wenn nur das Vergangene geblieben ist, das erzwungene Schweigen unter Saddam, die «unvorstellbare Angst»? Über den Besuch in der alten Heimat schrieb er zwei Beiträge für das Wochenmagazin «Sonntag». Und er war heuer Schreibcoach bei der Schreibinsel St. Gallen: Junge Erwachsene schrieben über ihre Flucht und ihr Ankommen in der Schweiz.

Der Wald als Heimat, als Ort der Gewissheit

Usama sagt ernst: Wo ist der Geschmack der Heimat? In der Natur hat er eine Kraftquelle gefunden, «sie ist unsere Mutter – und sie sagt nie Nein». Er geht in den Wald wie früher in den Hamam. «Ich tanke auf im Wald, dann kann ich besser mit Dingen umgehen und Antworten finden.» Etwa den schwierigen Einstieg in einen Text. Wenn er seinen Sohn mitnimmt, sagt ­Ythar: «Papi, du bist anders im Wald.» Die Bäume, die Wälder sind Usama zu einer neuen Heimat geworden. «Dank der Natur konnte ich weiterleben und meine Gefühle erneuern und frisch erhalten.» Im Irak einen Wald zu betreten, bedeute, das Ungewisse zu betreten – in der Schweiz sei er der einzige Ort der Gewissheit. Usama redet mit den Bäumen, das hat er von seinem Grossvater gelernt. Der Olivenbaum etwa ist Usama ein Wunder, ein Zauber, das Heilige.

Immer wieder kehrt unser Gespräch zum Begriff der Heimat zurück. «Heimat ist unersetzbar, ist Teil des Herzens, sie kann aber auch leer bleiben und unmenschlich.» Usama erinnert sich gut an Stimmen, an Geschmäcker wie jenen der Datteln und Granatäpfel und Feigen, nicht nur an Bilder. Und immer wieder taucht das Wort Dankbarkeit auf: Dankbarkeit für die Unterstützung durch Stadt und Kanton, für Lukas Hefti von der Kantonsbibliothek Thurgau oder Therese Salzmann von der Interbiblio in Bern.

Ist Usama Al Shahmani hier daheim? «Ja, aber die Schweiz ist nicht meine Heimat.» Auch in den Irak kann er nicht heimkommen, kann sein Geburtsland und geliebte Menschen nur besuchen. Im Irak, «wo sich Euphrat und Tigris umarmen», fühle er sich fremder als hier; das Land hänge an einem dünnen Faden, drohe wieder in Dunkelheit zu versinken. «Die Freiheit ist eine grosse Herausforderung, der Irak muss sie wieder lernen.» Sein Traum? «Richtig Fuss fassen hier. Mehr Sicherheit, nicht nur ‹da sein›. Dass meine Kinder nie erfahren müssen, was ich erlitten habe.» Erfährt Usama Al Shahmani bisweilen Neid? «Versteckt vielleicht. Schweizer reagieren nicht ablehnend, aber zurückhaltend, nicht so spontan. Sie sind eher vorsichtig, meist mache ich den ersten Schritt.»

Lesungen:
• Fr, 2. November, 19 Uhr, Agathu, Freie­strasse 28a, Kreuzlingen
• Fr, 30. November., 19 Uhr, Rathaus, Frauenfeld
• Mi, 27. Februar, 19 Uhr, Eiszueis, Sonnenstrasse 2, Weinfelden.

Wenn die Seele abwesend ist

Buchbesprechung Sieben Bäume wachsen in Usamas neuer Heimat: der Baum der Liebe, der Hoffnung, der Ungewissheit, des Todes, der Heimat, des Traums und der Baum der Geduld. «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» ist Usama Al Shahmanis zweites Buch nach «Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister», das er mit Bernadette Conrad geschrieben hat.

Der Protagonist heisst Usama, ist aus dem Irak geflohen, hat kein Geld, hofft auf Asyl in der Schweiz. Er entdeckt den Wald als Zufluchtsort, als naturgegebene Heimat, hört Arabisch in den Bäumen. Sein Alltag ist trist: Verständigungsprobleme, zögerliche Gespräche mit Schweizern und andern Asylsuchenden, keine Arbeit, dann endlich die erste Stelle. Die Fremdheit bleibt, diese «Abwesenheit der Seele», die Verlorenheit bleibt, ebenso die Orientierungslosigkeit. Usama erfährt aber auch Hilfe und Gastfreundschaft, sein Vertrauen wächst. «Es ist nicht schlimm, anders zu sein», sagt ein Schweizer, der die Fremde kennt.

Nur – wie soll sich Usama seine Hoffnung bewahren, die er von seiner Grossmutter geerbt hat? Er zieht sich zurück in die Natur und in die vertraute arabische Sprache – sie ersetzt ihm die verlorene Heimat. Und er eignet sich die neue Sprache an. Ein Brief seines Bruders Ali erreicht ihn, er sucht den Kontakt zur Familie. Dann verschwindet Ali, der das Leben so geliebt hat. Usama ist machtlos. In rhythmisch ­wechselnden Betrachtungen zu banalen und grossen Themen reflektiert er sich und seine neue ­Umgebung, stellt Menschen und Wesensarten einander gegenüber. Die neue Sprache wird zur zweiten Hauptfigur, die offenen Fragen aber bleiben. (dl)

Usama Al Shahmani: In der Fremde sprechen die Bäume arabisch. Limmat 2018, 192 S., 29 Franken