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Mit filmischen Mitteln inszeniert Jonas Knecht am Theater St. Gallen das Stück «Endstation Sehnsucht» von Tennessee Williams. Es handelt von den Verletzungen, die ein Leben hinterlassen kann – sodass jede Hoffnung sich als vergeblich erweist.
Vorsichtig, leicht zitternd erkundet sie das Terrain. Die offene Chipstüte, halbleere Flaschen, eine Tasse mit vertrocknetem Kaffee, und findet ihn weit oben im Wohnwagen: den Alkohol. Schon in der ersten Szene zeigt Blanche DuBois sich als wacklige Existenz. In den Bewegungen verrät sie, was sie fortan mit manchmal geradezu wütender Rastlosigkeit zu verdrängen sucht. Neugierig beäugt die Nachbarin Eunice (Jessica Cuna) sie, dann taucht ihre Schwester Stella auf. Auf sie und später auch auf ihren Mann Stanley ergiesst sich später ein steter Strom von Worten.
Wenn Blanche mal still ist, kann es einem unheimlich werden.
Es sind existenzielle Fragen, denen Tennessee Williams sich in seinem 1947 uraufgeführten Stück «A Streetcar Named Desire» widmet, und er tut es so zeitlos direkt, dass «Endstation Sehnsucht», wie sein deutscher Titel lautet, in seiner ungekünstelten Art auch heute noch seine Wirkung nicht verfehlt. Auch nicht am Theater St. Gallen, wo es am Freitagabend in der Inszenierung von Jonas Knecht Premiere gehabt und viel Applaus geerntet hat.
Drei Personen tragen das Stück: Da ist Anja Tobler als Blanche DuBois, Tochter aus wohlhabender Südstaaten-Familie, die alles verloren hat: das Haus, die Stelle, die Ehre. Da ist Anna Blumer als Stella Kowalski, stets darum bemüht, jene Streitigkeiten einzuhegen, die ihr Mann Stanley (Frederik Rauscher) vom Zaun bricht.
Stanley und Blanche verachten einander von der ersten Sekunde an, und sie verhehlen es auch gar nicht. Stanley fördert jene Wahrheiten ans Licht, die Blanche vor allen andern und auch vor sich selber zu verstecken sucht. Geradezu brutal zwingt er sie, mehr und mehr von sich preiszugeben, ihre Scheinwelt Stück um Stück zu opfern.
Stanleys Freunde Steve (Christian Hettkamp) und Pablo (Matthias Albold) sind lärmige Gesellen, einzig Mitch (Oliver Losehand) tanzt am Pokerabend aus der Reihe. Seine Mutter ist krank, sie würde sich wünschen, dass er heiratet. Doch Blanche und er, sie wagen im entscheidenden Moment dann doch nicht, den Schritt zu tun. Stattdessen stellen sie ungeschickte Fragen.
Es bleibt bei der Sehnsucht. Liebe, das erscheint ausgeschlossen, sie ist ein fernes Trugbild wie jener Zeitungsbote (Tobias Graupner), dem Blanche sich einmal zu nähern sucht – ein Prinz, der sich ihr sogleich entzieht. Statt wahre Liebe mit ihren Licht- und Schattenseiten zu erfahren, träumt sie von einem Millionär, den es gar nicht gibt. Blanche sagt:
«Es gibt so viel Durcheinander auf der Welt.»
Doch das grösste Durcheinander findet sie in sich selber. In einer zarten, orientierungslosen, zutiefst einsamen Seele, wie wir sie auch in unserer Zeit hunderttausendfach wiederfinden.
Jonas Knecht hat aus Tennessee Williams’ Klassiker etwas Einfaches und zugleich Raffiniertes gemacht, indem er sich jener Kunstform bedient, die Williams erst richtig berühmt gemacht hat – des Films. Zwei Kameraleute, zuerst unsichtbar, dann immer ungenierter ins Bild tretend, erfassen, was sich im drehbaren Wohnwagen der Kowalskis tut. Ganz nah zoomen sie an Blanches Gesicht heran, und während sich hinter den Gardinen eine schattenhafte Auseinandersetzung abspielt, enthüllt die darüber ausgerollte Leinwand, was sich da wirklich tut. Das ist anrührend und beklemmend. Der Blick auf Gesichter, auf Gesten, auf Bewegungen verstärkt, was in den Worten liegt, und lässt Zwischentöne sichtbar werden.
Clemens Walters Videokonzept und Jonas Knechts Inszenierung verbinden sich auf eindrucksvolle Weise zu einem Ganzen. Sie finden auf Michael Köpkes Bühne ein ideales Tummelfeld. Der enge Wohnwagen und ein paar Plastikstühle draussen genügen, um das menschliche Drama in Szene zu setzen. Andi Peter unterlegt mit Bassgitarre, Klavier und Stimme einen Klangteppich, der viel beiträgt zur eindringlichen Wirkung des Abends.