Die Fieberkurve steigt

Italien in der Krise: Daniele Luchettis Spielfilm «La nostra vita» gibt einen Einblick in den Zustand unseres südlichen Nachbarlandes, ohne Anklage zu erheben. Der Regisseur erzählt ein schnörkelloses Sozialdrama.

Philippe Reichen
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Krach auf der Baustelle: Szene aus «La nostra vita». (Bild: pd)

Krach auf der Baustelle: Szene aus «La nostra vita». (Bild: pd)

Wer Italien als Tourist bereist, bemerkt die Misere, in der das Land steckt, kaum. Wer mit den Leuten spricht, bekommt dann allerdings mehr zu hören, als ihm lieb ist. Die Leute klagen. Die Lebenskosten sind in den vergangenen Jahren markant gestiegen, während die Löhne stagnieren. Das Einkommen eines normalen Angestellten reicht kaum aus, um sich eine anständige Wohnung zu leisten. Viele junge Paare verdrängen den Wunsch nach einem Kind, weil sie sich ein Kind nicht leisten können.

Der italienische Regisseur Daniele Luchetti hat über Italiens Misere einen Film gemacht. Mit «La nostra vita» («Unser Leben») hat er ihm einen bewusst unaufgeregten Titel gegeben. Luchetti sagt: «Es ist ein Film, welcher nichts beweisen oder erklären will, aber er schafft Verbindungen, welche ich als richtig betrachte. Indem ich die Kamera als Fieberthermometer benutze, kann ich vielleicht sogar die Fieberkurve des Landes aufzeichnen.» Eine Fieberkurve, die steil nach oben zeigt. Klar, dass die staatliche Fernsehgesellschaft RAI Luchettis Film mitfinanziert hat. Im Gegensatz zu italienischen Wohlfühlkomödie wie «Immaturi» oder «Benvenuti al Sud», die zeitgleich entstanden und auch die St. Galler Kinos passierten. Beide wurden von Berlusconis Unterhaltungskonzern Mediaset produziert.

Gegen das Schicksal

«Wir wollten eine Geschichte erzählen, aber keine unmittelbare Sozialkritik üben», sagt Daniele Luchetti. Es ist eine harte Geschichte, die der Regisseur und Sandro Petraglia und Stefano Rulli, die am Drehbuch mitschrieben, schildern. Claudio (Elio Germano) arbeitet als Polier auf einer Baustelle. Mit seiner hochschwangeren Frau Elena (Isabella Ragonese) und den beiden Kindern wohnt er in einer Arbeitersiedlung in einem Vorort von Rom. Die Gegend ist trostlos, das Geld reicht fürs Nötigste.

Auf die Liebe zwischen Claudio und Elena hat das alles keinen Einfluss. Claudios Leben ändert sich in kürzester Zeit. Zunächst weil auf seiner Baustelle ein rumänischer Schwarzarbeiter tot aufgefunden wird. Dann stirbt auch noch seine Frau Elena bei der Geburt des dritten Kindes. Mit derselben Intensität, wie sich sein Leben gegen ihn gewendet hat, stemmt sich Claudio gegen sein Schicksal. Der Tod des Schwarzarbeiters dient ihm als Mittel, seinen Chef unter Druck zu setzen. Er will in zwingen, ihn als Mitunternehmer einzusetzen. Doch damit ändert sich nichts – im Gegenteil. Claudio hat Elenas Tod nicht verarbeitet, er verschuldet sich, muss für die Kinder sorgen, und durch einen Zufall beginnt auch noch der Sohn des toten Schwarzarbeiters auf seiner Baustelle zu arbeiten. «La nostra vita» schaffte es im vergangenen Jahr in den Wettbewerb des Filmfestivals Cannes. Zu Recht.

Daniele Luchetti erzählt das Sozialdrama schnörkellos. Wo die Geschichte betroffen macht, versucht er nicht zusätzlich Emotionen zu wecken. In einigen Momenten kann dem Regisseur den Vorwurf machen, zu sorglos über Bruchstellen hinwegzugehen, so beispielsweise beim Tod der Ehefrau. Hingegen überrascht er später mit Szenen ihrer Beerdigung. Er hat sie mit Handkameras aufgenommen.

«Objektiv und realistisch»

Diese Momente transportieren alles, was es in diesem Augenblick zu vermitteln gibt: Trauer, Wut, Fassungslosigkeit. Daniele Luchetti sagt: «Es scheint mir, es sei schon lange keine Lebensgeschichte mehr objektiv und realistisch über solche Leute erzählt worden.» Genau das ist ihm mit «La nostra vita» gelungen.

Kinok Lokremise: Heute Mo und Mi 25.5., je 18.15 Uhr; Fr 27., 21.30 Uhr; So 29., 20 Uhr; Mo 30. und Di 31.5., je 20.30 Uhr.