Am 15. Juni 1959 schreibt Philippe Jaccottet: «Gesang des Pirols, von seltsamer Ruhe, wie ein Gesang der Loslösung; während ich Unkraut rupfe.» Vom 15.
Am 15. Juni 1959 schreibt Philippe Jaccottet: «Gesang des Pirols, von seltsamer Ruhe, wie ein Gesang der Loslösung; während ich Unkraut rupfe.» Vom 15. Februar 1972 stammt die Notiz: «Einmal mehr stellt man fest, dass Balzacs grausamste Geschichten, zum Beispiel die vom <Cousin Pons>, die Schwärze der Wirklichkeit kein bisschen übertreiben.»
Die zwei Textstellen sind exemplarisch für die thematische Breite der 2013 auf französisch und nun auf deutsch erschienenen Notizensammlung «Sonnenflecken, Schattenflecken» von Philippe Jaccottet. Von «geretteten Aufzeichnungen» spricht der Autor, denn es sind Passagen aus dreissig Notizbüchern der Jahre 1952 bis 2005, die Jaccottet vor einigen Jahren wegzuwerfen sich anschickte. Schön, dass er zuvor die Arbeit der nochmaligen Durchsicht nicht gescheut hat.
Jaccottet, der am 30. Juni seinen 90. Geburtstag feiert, ist eine wichtige Stimme der Westschweizer Literatur, obwohl er seinen Heimatort Moudon im Kanton Waadt schon als 21-Jähriger verlassen hat, um nach Paris zu ziehen. 1953 liess er sich im Dörfchen Grignan in Südfrankreich nieder, wo er noch heute lebt. «Es gibt Orte, die untrennbar mit der Poesie verbunden sind: Hölderlins Tübingen, Goethes Weimar, und auch Grignan ist ein solcher Ort geworden», schreiben Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, die «Sonnenflecken, Schattenflecken» sorgfältig ins Deutsche übersetzt haben, im Nachwort. Grignan ist nicht der zufällige Ort des Arbeitens, meint das, sondern die Verkörperung gelebter Erfahrung.
Ort und Umgebung leben durch die präzisen und feinsinnigen Natur- und Landschaftsschilderungen, und sie sind die Erdung des geistigen Kosmos, in dem der Lyriker, Essayist und Übersetzer lebt. Er reflektiert seine Begegnungen mit anderen Schriftstellern und deren Werken, schreibt über Eindrücke von Musik und Malerei, notiert Reiseerlebnisse und Träume, berichtet vom Tod von Freunden und Verwandten. Und immer wieder beschäftigt er sich mit seinem Tun als Autor und Übersetzer, mit der grossen Frage, wie die Welt in Sprache gefasst werden könne. Im Januar 1964 notiert er: «Wie kann man Wörter auf die Probe stellen, was tun, damit sie das Schlimmste umfassen, selbst wenn sie leuchtend sind?»
Zweifel gegenüber der Tauglichkeit der Sprache, daneben die eigene Poesie, die diese Zweifel gleichzeitig ausräumt: Das ist die grossartige und bereichernde Spannung in diesem Buch. Es rapportiert fünf Jahrzehnte des Erlebens und Reflektierens – mit einem bemerkenswerten Ansatz: «Nur sagen: in einem bestimmten Augenblick habe ich das gesehen», notierte Jaccottet am 24. Januar 1964. Mehr Authentizität ist nicht möglich.