Leben darf lebensgefährlich bleiben – der Thurgauer Lyriker Christian Uetz streitet mit einem Essay für Übermut und Lust auf Nähe

Er hat kein Corona-Tagebuch geschrieben, aber ein mutiges Plädoyer gegen die Panik und die Besessenheit, das Sterbenmüssen und Sterbendürfen auf Distanz zu halten: Eine Begegnung mit dem Schriftsteller Christian Uetz in Zürich, mit etwas weniger als zwei Metern Abstand.

Bettina Kugler
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Das Sterbenkönnen ist ein für ihn wesentliche Voraussetzung intensiver Lebenslust: Christian Uetz hat darüber während des Lockdowns einen leidenschaftlichen Essay geschrieben.

Das Sterbenkönnen ist ein für ihn wesentliche Voraussetzung intensiver Lebenslust: Christian Uetz hat darüber während des Lockdowns einen leidenschaftlichen Essay geschrieben.

Bild;:Hanspeter Schiess

Ein Glück, dass man sich gegenübersitzen kann, an einem Bistrotisch im Zürcher Hauptbahnhof, unter den Flügeln des Engels von Niki de Saint-Phalle: Es verleiht dem Gespräch mit dem aus Egnach stammenden Lyriker Christian Uetz Lebendigkeit und Nachdruck, weit über den Gedankenaustausch hinaus. Genau das ist unser Thema – die lebhafte Sorge um die Langzeitfolgen sozialer Isolation und zwischenmenschlicher Distanz in Zeiten von Corona.

Uetz hat darüber während des Lockdowns einen Essay geschrieben, der soeben im von Gallus Frei herausgegebenen Magazin «literaturblatt.ch» online erschienen ist. «Nur dieses Leben» ist eine mutige Streitschrift für die Intensität des Lebens im Wissen um die Sterblichkeit jedes Menschen. Dafür liess Uetz zeitweilig den Roman liegen, für dessen Ausarbeitung ihm die Pro Helvetia gerade einen Förderbeitrag zugesprochen hat. Mit jedem Satz hat er gerungen: Man spürt es beim Lesen – und sieht es im eigenen digitalen Postfach. Auch nach der Begegnung in Zürich treffen in kurzen Abständen noch zwei oder drei Neufassungen ein.

«Nur dieses Leben» - ein Auszug aus dem Essay von Christian Uetz

«Jünger sterben, überhaupt sterben ist ein Skandal»

Zumindest macht die Coronakrise die so unfassbar hoch gestiegene Lebenserwartung in ebenso unfassbar grosser Selbstverständlichkeit deutlich, dass vielleicht auch ein Hundertjähriger bald nicht mehr sterben kann, ohne elend vor der Zeit gestorben zu sein. Jünger sterben, überhaupt sterben ist ein Skandal. Es ist nicht nur seit Camus der Skandal schlechthin, daran wiederum nur Gott schuldig sein könnte, wenn er wäre. Und dass gestorben und gelitten wird, genügt auch zum Gegenbeweis. Und spräche auch das Nichtsein nicht gegen den zusehends weiblichen Engel, und wäre das nichtseiende Licht auch eine Sie, die Herrin Sprache, und wäre diese Herrin auch alle Sprechenden selber, so wäre sie doch der Kapitalgrund, die Gottillusion als völlig jenseits zu erledigen. Aber achtzig Jahre alt zu werden ist nicht nur historisch, sondern in Hinsicht auf manche Weltregionen auch heute noch ein grosses Glück.

Kinder und alte Menschen leiden unter der Isolation

Wer ihn schon einmal live erlebt hat, ob im persönlichen Gespräch oder an einer «Lesung» (bei Uetz heisst das: ein durch und durch verinnerlichter Text entäussert sich, auswendig), wird seine Intensität vor Augen haben, die totale Hingabe an die Sprache als Form und Stoff des Denkens. «Ich kann mir ein Leben ohne Übermut, ohne Ekstase und Verzückung nicht vorstellen», sagt Uetz, «das ist eine Art religiöse Inbrunst.» Dass solche Extreme der Lebendigkeit in einer von Selbstbeherrschung und Vernunft geprägten Gesellschaft eher selten sind und mit Zurückhaltung quittiert werden, ist ihm bewusst.

Mit sehr gemischten Gefühlen hat er in den Lockdown-Wochen zwei Pole in der öffentlichen Debatte wahrgenommen: hier absoluten Lebensschutz, da Angst vor der wirtschaftlichen Katastrophe. «Die psychische Not, in die viele geraten, wird völlig unterschätzt», so seine Wahrnehmung. «Herzlichkeit ist aber lebenswichtig. Wir brauchen Begegnung, sind angewiesen auf Nähe. Digitale Kommunikation kann die Begegnung ergänzen, aber nicht ersetzen.»

Lebensalltag zwischen Göttingen und Zürich

Besonders als Vater zweier Buben, vier und sechs Jahre alt, fiel ihm schwer, mit anzusehen, wie die erzwungene Distanz auf Kosten der Lust und Lebendigkeit geht. Uetz lebt abwechselnd in Zürich und Göttingen, wo seine Frau das Literaturhaus leitet, die Söhne in die Kita gehen. Die Lage war dort wesentlich beklemmender: Die Kinder konnten kaum unbeschwert draussen toben oder mit dem Velo davonsausen. Christian Uetz sagt:

«Der Anblick von Spielplätzen, die mit Flatterband abgesperrt waren, hat mich in Deutschland wirklich beelendet.»

Ebenso deprimierend findet er die Vorstellung, dass Hochbetagte in Heimen «zwangsisoliert» sind, «bitterseelenalleingelassen». Auch für sie ergreift er das Wort in seinem Essay. Intensiv, wie der Poet am Leben und an der Kraft des Wortes hängt, streitet er auch für das Sterbenkönnen – und meint es, so betont er, nicht zynisch. Nur übermütig, leidenschaftlich, überzeugt davon, dass der Tod sich nur auf Kosten lebendigen Lebens aussperren lässt.

Der Essay «Nur dieses Leben» von Christian Uetz ist online erschienen als Gastbeitrag des Magazins literaturblatt.ch