Der Seher

Den ganzen André Kertész zeigt das Fotomuseum Winterthur: nachdenklich, empfindsam, melancholisch.

Dieter Langhart
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Im Herzen blieb er Franzose – André Kertész: Place de la Concorde, Paris, 1928, 25,2 x 20,3 cm. (Bild: André Kertész/Sammlung Robert Gurbo)

Im Herzen blieb er Franzose – André Kertész: Place de la Concorde, Paris, 1928, 25,2 x 20,3 cm. (Bild: André Kertész/Sammlung Robert Gurbo)

Brassaï hat einmal gesagt: «Ich erfinde nichts, ich stelle mir alles vor.» Ganz anders dachte sein Freund und Förderer André Kertész. Der «Unterwasserschwimmer», den er 1917 in Esztergom fotografierte, sollte im Bild genau so aussehen wie im Wasser; bei den Mädchen in der Serie «Distortions» sei es «der Spiegel, der verzerrt, nicht ich». Dabei stammten beide, Brassaï und Kertész, aus Ungarn. Beide arbeiteten als Fotografen in Paris, stellten später im Museum of Modern Art in New York aus.

Als Kertész 1936 nach New York zog, fingen die Schwierigkeiten an. Die Redaktoren des «Life»-Magazins wiesen seine Fotografien zurück; sie würden «zu viel erzählen». Kertész war 43 und bekannt und lebte von seinen Reportagen für deutsche und französische Illustrierte. Ihnen gefielen die Bilder, die er selber mochte: schlichte, eher dunkel gehaltene Aufnahmen von Menschen und Strassenszenen, die frei waren von Melodrama, Anmassung oder Extravaganz.

Meisterlich schuf Kertész Stimmungen aus weichem Licht und reichen, warmen Schatten; er experimentierte mit Aufnahmen im Regen, Nebel, in lichtarmer Nacht; er reduzierte die Schärfentiefe, damit Motive aussahen, als wären sie nicht genau auszumachen. Im Banalen hat André Kertész das Besondere erkannt, er war ein fotografischer Seher, ein Poet des Lebens.

Szenen wie aus einem Renoir

Die kühle Intimität und die unerwarteten Blickwinkel seiner Pariser Szenen erinnern an Filme Renoirs, ihre Stille und sorgsame Innensicht an Gemälde. Und sie weckten auch das Interesse von Künstlern wie Mondrian oder Chagall zu einer Zeit, da die Fotografie noch nicht ernst genommen wurde.

Das Fotomuseum Winterthur richtet dem «ewigen Amateur», als den sich Kertész gern bezeichnet hat, eine umfassende Retrospektive aus, die in Paris zu sehen war und

weiter nach Berlin und Budapest geht und von einer ausgezeichneten Publikation begleitet wird (Hatje Cantz). Sie ist chronologisch gehängt und lässt die drei Länder und Kulturen (und Sprachen) erkennen, die prägend waren für André Kertész.

1912, mit 18 Jahren, kauft er seine erste Kamera, und schon die frühen Aufnahmen in Budapest wie «Schlafender Junge» wirken erstaunlich reif in ihrer gezielten, aber unaufdringlichen Komposition und Lichtführung.

Seine Heimat Ungarn reicht nicht aus für seine Berufung, 1925 wandert Kertész nach Paris aus, wie Tausende seiner Landsleute.

Einer der ersten Fotoreporter

Innert kürzester Zeit profiliert er sich als Vertreter der fotografischen Avantgarde, in Mondrians Atelier entstehen meisterhafte Porträts, 1927 richtet die Galerie Au Sacre du Printemps eine Ausstellung aus. Kertész kauft sich eine der ersten 35-mm-Leicas, die 1928 auf den Markt kommen.

Sie erleichtert ihm das Einfangen der «kleinen Vorfälle, die ich um mich herum sehe»: Bilder des Alltags, Spiele mit Spiegeln, Schatten und Reflexionen, die er zu Metaphern verdichtet. Und Kertész arbeitet für die Presse, für die Nachrichtenmagazine, die hungrig sind nach Bildern aus den handlichen Kameras. Die Illustrierte «Vu» legt die Themen für die Fotografen im voraus fest – und begründet so die Fotoreportage.

Mehr als 30 Reportagen realisiert Kertész für «Vu», in denen er die poetische Illustration der dokumentarischen vorzieht.

Bilder der Melancholie

Die Aufträge wurden seltener, Kertész wanderte 1936 mit seiner Frau Elizabeth nach New York aus, arbeitete ein Jahr für die Fotoagentur Keystone und erhielt eine Einzelausstellung am Museum of Modern Art.

Magazine wie «Harper's Bazaar», «Vogue» oder «Look» verlangten andere Bilder, als der Meister der Stille sie mochte. Kertész war allein gegen Fotografen wie Edward Weston, die mit Plattenkameras ausströmten und in Langzeitbelichtungen epische Bilder einfingen voller Detail, Klarheit und Schärfentiefe.

André Kertész passte sich an; seine persönlichen, intuitiven Bilder schoss er in seiner Freizeit: Bilder der Einsamkeit und der Melancholie.

1962 wurde er ernsthaft krank, sein Leben schien an einem kritischen Punkt angelangt, er kündigte den Vertrag mit Condé Nast. Die Pensionierung und die Bitte der Fotozeitschrift «Camera» um ein Portfolio erlaubten ihm einen Neuanfang. 1964 schloss das Museum of Modern Art mit einer Retrospektive die Klammer zur Ausstellung 1937.

André Kertész: Retrospektive, Fotomuseum Winterthur, bis 15. Mai