Wenn Adrian Oetiker Klavierkonzerte spielt, sitzt er im Rampenlicht. Doch beim Ballett Zürich hockt er unsichtbar im Orchestergraben. Der St.Galler findet die besondere Verbindung zur Bühne wunderbar.
Tosender Applaus im ausverkauften Zürcher Opernhaus. Bravorufe für die Tänzerinnen und Tänzer, die eineinhalb Stunden Leben, Lieben und Leiden der Tänzerlegende Nijinski verkörperten. Auch unten im Orchestergraben wird applaudiert, nur etwas leiser. Geiger, Bratschistinnen, Cellisten, alle klopfen mit ihren Bögen auf die Notenständer. Ihr Applaus gilt nicht den Tänzern: Sie applaudieren Adrian Oetiker.
Der Pianist grinst und zieht seine Hemdärmel unterm Frack vor. Der Konzertmeister schüttelt ihm die Hand, der Dirigent, die erste Bratsche. Händeschüttelnd schlängeln sich Oetiker und Dirigent durchs Orchester ins Treppenhaus, hinauf auf die Bühne. Und dann gibt es auch für den Pianisten Bravorufe.
Normalerweise sitzt Adrian Oetiker im Rampenlicht, wenn er Klavierkonzerte spielt. Nicht so im Opernhaus Zürich: Hier hockt Oetiker, 50, preisgekrönter Pianist, Professor an den Musikhochschulen München und Basel, fürs Publikum unsichtbar im Orchestergraben. Und spielt quasi die Begleitmusik fürs Ballett.
So würde das Oetiker nie sehen. Er spielt zwei Klavierkonzerte. Einfach im Graben. Er liebt die Vorstellungen im Opernhaus. «Wann sonst kann man als Pianist hier spielen?» Das Besondere für ihn ist die Nähe zum Orchester. Sein Flügel steht mitten drin, vor dem Dirigenten, umringt von Geigen, Viola, Celli. Er badet im Klang, sagt Oetiker.
Noch etwas stimmt genau für ihn: Chopins grosser Wunsch war es, Opern zu komponieren. Doch dazu kam es nicht. Aus Oetikers Sicht sind die Klavierkonzerte zu Opern geworden. In Zürich werden sie nun zu Ballett. Am 9. März war Premiere, Marco Goeckes Choreografie ist ein Erfolg – an dem auch Oetiker einen Anteil hat.
Der Pianist war bei den Proben dabei, drei Wochen übte er mit den Tänzerinnen und Tänzern im Studio. Darauf hatte er bestanden: «Damit sie sich daran gewöhnen, ich spiele ja nicht immer gleich.» Jetzt tanzen die Tänzer bei ihm mit den Ohren.
Die Compagnie ist von Adrian Oetiker begeistert: «Gefühl und Atmosphäre von ‹Nijinski› werden vom Klavier bestimmt», sagt Tänzer Matthew Knight.
«Jede Vorstellung ist anders und du entscheidest im Moment, wie sich die Figur innerhalb dieses neuen Rahmens bewegt.»
Oetiker spielt nicht auf Knopfdruck langsamer oder schneller. Es ist sein Chopin, er muss seine Ideen, seine Emotionen in den Klängen ausleben. Sonst stimmt es nicht. In den Proben lernten er und die Compagnie, aufeinander zu hören. «Man muss sich verstehen, wie bei Kammermusik.»
Als Zuschauer sieht man das nicht. Es scheinen zwei Parallelwelten zu sein, oben im Scheinwerferlicht die Tänzer, Schweiss, Atmen, jede Regung, alles wird vom Publikum wahrgenommen. Unten im Graben das Orchester, im sanften Licht der Notenpultlampen. Wie sich die Musikerinnen und Musiker zunicken? Wie sie mitgehen? Wie sie gespannt auf der Stuhlkante sitzen, bereit zum Einsatz, wenn Oetiker anders phrasiert? Wie sie sich darüber freuen? Sieht man nicht.
Aber man hört es. Musik ist halt alles, sagt Oetiker. Musik beinhaltet alles, immer. Ein Leben ohne Musik? Geht nicht. Musik ist Leben, für Oetiker schon immer. Als Sechsjähriger begann er, Klavier zu spielen und Geige. Unterricht bekam er vom Vater, Musiklehrer und Organist in St. Gallen.
Adrian, drittes von vier Kindern, trat mit seinen Geschwistern im TV als Streichtrio auf. Er mochte an der Geige die Nähe zum Instrument. Nein, er sei kein Wunderkind gewesen, sagt er. Aber besonders begabt. Und besonders eifrig: Die Familie musste umziehen, weil Klein-Adrian zu laut und zu viel übte, die Nachbarn störte das.
Dass er Musiker werden wollte, war ihm früh klar. Mit dreizehn wurde er Jungstudent am Konservatorium Winterthur mit Geige und Klavier. Später dann das Studium in Zürich, noch immer spielte er beide Instrumente gern. Bis er plötzlich fühlte: das Mechanische am Klavier, die Distanz war weg. Die Geige brauchte er danach nicht mehr, er hat sie nie vermisst. Als Geigenlehrer verdiente er sich das Geld für seinen ersten Flügel.
In seinem Zuhause in München stehen heute drei. Seine Frau ist Pianistin, die beiden treten auch als Duo auf. Die Söhne sind sechs und zehn, der ältere hat das Klavierspielen aufgehört, er lernt jetzt Schlagzeug.
Eineinhalb Stunden bevor sich in Zürich der Vorhang zu «Nijinski» hebt, ist Oetiker schon im Opernhaus. Ein kleines Musikzimmer im obersten Stock, kaum passt der Flügel neben einen blauen Spind. Der Klavierhocker ist ans Instrument gekettet. Oetiker hat die Noten aufgestellt, seine Brille legt er daneben. Er spielt auswendig.
Gestern erst hat er sie gespielt, trotzdem geht er die beiden Konzerte durch, wie vor jeder Vorstellung. Er will noch einmal rekapitulieren, was er alles denken muss. Es ist seine Art, Konzentration zu finden. Hier nimmt er eine Abkürzung, dort wiederholt er einen Lauf, manches zerdehnt er, über anderes huscht er drüber. Als er auf einmal seine ganze Kraft hineinlegt, platzt der kleine Raum fast vor wilden Klängen, der Spind scheppert.
Da knarzt der Lautsprecher an der Wand: «Die Bühnenreinigung bitte nochmal zur Bühne, die Bühnenreinigung.» Es ist 18.33 Uhr, Oetiker geht sich umziehen. Frack und Hemd hängen gebügelt in seiner Garderobe. Sein Sohn ruft an, kurz noch ein Küsschen durchs Telefon.
Er übt weiter, den Einruf um 18.45 Uhr hört er nicht. Draussen senkt sich die Dämmerung über die Dächer. Üben ist etwas Einsames. Und gleichzeitig auch nicht: Oetiker ist nicht allein, in seiner Musik tut sich ein Universum auf.
Die Inspizientin ruft per Lautsprecher zur Bühne. Es ist 18.55 Uhr. Oetiker behält die Ruhe, er isst noch eine Banane, er hat sie zwar nicht so gern, aber «das ist das Beste vor einem Konzert».
Punkt 19 Uhr schlängelt er sich im schwarzen Frack durchs Orchester im Graben, legt das abgegriffene Notenheft flach auf den Flügel, seine Brille daneben. Das Orchester setzt ein. Oetiker blickt konzentriert nach unten, eine Hand auf der Notenablage. Kurz verschränkt er die Arme. Dann greift er in die Tasten.