Claudio Abbado ist gestern im Alter von 80 Jahren gestorben. Er war der grösste Dirigent unserer Zeit, der nach seinem Rücktritt bei den Berliner Philharmonikern in Luzern wundervolle Akzente setzte.
Obwohl Claudio Abbado zum dirigierenden Halbgott geworden war: Ohne seine heiss geliebten Ravioli ging gar nichts. Als das Lucerne Festival Orchestra im September 2012 auf dem Weg nach Moskau war, die Musiker hinten im Flugzeug Sandwiches verdrückten, da ass der italienische Maestro in der ersten Reihe des gecharterten Flugzeugs sanft lächelnd seine Leibspeise. Als wir uns nach dem Essen auf die andere Seite des Ganges zu Michael Haefliger setzten, sagte der Intendant des Lucerne Festival strahlend: «Eben hat mir Claudio Pläne für die nächsten fünf Jahre mitgeteilt.» Vergessen war der unglückliche Sommer 2012.
Mahlers 8. Sinfonie bildete damals das Kernstück des Programms zum Thema «Glaube». Doch drei Monate vor Festivalbeginn strich der Maestro die Sinfonie ohne Diskussion aus seinem Programm. Acht (!) Top-Gesangssolisten, drei Chöre, ein riesiges Orchester waren da bereits bestellt. Abbado muss irgendwann, wohl bei einem Gang durch sein geliebtes Fextal, gemerkt haben, dass diese «Riesenschwarte» (Adorno) nicht zu bewältigen ist, dass er sie im Grunde nie gemocht hatte – und nie mögen würde. Sein auf DVD aufgezeichneter Luzerner Mahler-Zyklus wird unvollendet bleiben, denn Claudio Abbado ist gestern gestorben.
Über Claudio Abbado zu reden, hiess zu träumen. Selbst Orchestermusiker, die normalerweise schonungsloser und ehrlicher über Dirigenten reden als zwei Freundinnen, die über ihre Männer lästern, wussten nur zu schwärmen. Er sei ein Zauberer, sagten sie. Oder noch besser: «Er ist wie ein Gral, ein sagenhaftes Medium. Er lässt die zirkulierende Energie der Musik so zusammenfliessen, dass sie sich in sich immerfort erneuert. So entsteht ein ewiger Kreislauf, ein Perpetuum Mobile zwischen Musiker und Dirigent.»
Dieser Magier feierte im Juni 2013 seinen 80. Geburtstag und war seit 2003 das Aushängeschild von Lucerne Festival. 1966 hatte er das erste Mal in Luzern dirigiert. Als der Sohn zweier Mailänder Musiker einige Jahre früher in Wien bei Hans Swarowsky studierte, trat er zusammen mit Zubin Mehta dem Singverein bei, um aus der Warte des Chorsängers die grossen Dirigenten zu beobachten.
Mit Erfolg. 1963 gewann er in New York den ersten Preis beim Mitropoulos-Wettbewerb. Verpflichtungen bei allen grossen Orchestern folgten. Bald war er Mailands Opernchef, bald jener der Wiener Staatsoper.
Doch nachdem er sich 2002 von den Berliner Philharmonikern verabschiedet hatte – der Schritt wurde in der Musikwelt wie der Rücktritt des Papstes von seinem Amt kommentiert –, verwirklichte ihm Intendant Michael Haefliger einen Traum, schuf ihm ein Orchester der Freunde und langjährigen Weggefährten. Im ersten Jahr dirigierte er Gustav Mahlers «Auferstehungssinfonie»: «Sterben werd ich, um zu leben» sang der Chor im Finale. Abbados im Jahr 2000 diagnostizierte Krebserkrankung schien durch die Musik besiegt.
Viele alte Orchesterhasen leisteten sich seither für ihren Claudio diese Auszeit in Luzern. Einer wie der dirigierende Spitzenbratscher Wolfram Christ kam immer wieder. Gerade Christ war in Sachen Abbado ein spannender Gesprächspartner, weil er nicht nur verklärte, sondern auch erklärte. Abbados Klarheit in der Gestik hob er deutlich hervor. Dass Abbado in den Proben kaum Worte verlor, fand er nicht speziell erwähnenswert. «Entscheidend ist nicht, was ein Dirigent in den Proben erzählt, sondern ob er im Konzert seine Seele öffnen kann. Das geschieht bei Abbado in jedem Konzert», befand Christ.
Abbado begann erst mit den Proben, wenn alles rundherum so war, wie er sich das wünschte. Jeder Musiker des Festspielorchesters verstand seine Augen- und Handgestik – Luxusbedingungen für den Maestro. Kein Wunder, liess sich Abbado anderswo kaum mehr blicken. Er wusste auch selbst: Orchestermusiker, die klare Anweisungen brauchen oder verlangen, würden mit ihm scheitern. Den Wiener Philharmonikern gab er einen Korb, worauf man in Wien fälschlicherweise schnippisch meinte: «Offenbar sind wir ihm nicht gut genug.»
Abbado erwartete viele Impulse von den Solisten wie auch von jedem Orchestermusiker. Er liess die Musik durch die Eigeninitiative der Musiker entstehen. «Er hat gern, wenn der Solist nicht darauf wartet, mitgenommen zu werden», sagte die Geigerin Isabelle Faust vor einigen Jahren. Wenn Abbado merke, dass diese Impulse kommen, übernehme er das Ruder und dann brauche man sich nur noch an ihn dran zu hängen. «Abbado ist der Meister des Fliegenlassens!»