Der Film «Black Mirror: Bandersnatch» fühlt sich an wie ein Computerspiel und gibt dem Nutzer Kontrolle über die Handlung. Damit entwickelt sich das Streaming-Portal konsequent weiter.
Es gibt Entscheidungen, die scheinen banal: Etwa welche Frühstücksflocken man isst.
Und dennoch muss man sie treffen. Das gilt auch für den Zuschauer im interaktiven Netflix-Film «Black Mirror: Bandersnatch». Es ist der erste Netflix-Film, in dem der Zuschauer mehr als bloss Zuschauer ist. 18 Monate haben die Macher daran gearbeitet, dieses Wochenende wurde der Film nun aufgeschaltet.
Andere Entscheidungen haben offenbar weitreichende Folgen: Soll man ein Jobangebot bedingungslos annehmen oder nicht? Je nachdem, wie man sich entscheidet, nimmt der Film einen anderen Lauf. Der Zuschauer bestimmt aktiv mit, wie sich die Geschichte entfaltet, welche Wendungen sie nimmt – und wie sie endet.
Neu ist das Konzept des interaktiven Erzählens nicht. In Computerspielen ist es weitverbreitet, auch in Filmen ist es schon mehrfach erprobt worden – mit durchzogner Erfolgsbilanz (siehe Box). Dass nun mit Netflix einer der grössten Unterhaltungskonzerne darauf setzt und auf diese Weise dem Film eine neue Ebene hinzufügt, ist bedeutend und könnte das Genre neu beleben.
Als ältester interaktiver Text gilt das chinesische «Buch der Wandlung» («I Ging»), das rund 1000 Jahre v. Chr. entstanden ist. Der Leser kann damit verschiedene Hexagramme bilden. Der erste Film, bei dem das Publikum die Handlung beeinflussen konnte, wurde 1967 an der Weltausstellung präsentiert. Einen ersten Höhepunkt erlebte der interaktive Film in den 90er-Jahren mit dem Aufkommen der CD-Rom. Doch die Qualität der Produktionen überzeugte das Publikum nicht. 2016 entwickelte das Schweizer Unternehmen CtrlMovie eine Technologie, welche es möglich macht, dass Filme ohne sichtbare Brüche von einer Erzählspur auf die nächste springen können.
Der damit produzierte Film «Lateshift» mit Joel Basman in der Hauptrolle wurde in Cannes gezeigt. (RAS)
Die Macher – das Drehbuch stammt aus der Feder des «Black Mirror»-Schöpfers Charlton Brooker, Regie führte David Slade – sehen sich durchaus in der Tradition ihrer Vorgänger: Der Protagonist, Stefan Bulter (Fionn Whitehead, «Dunkirk»), ist ein junger Programmierer, der sich daran setzt, ein Spiel zu entwickeln, in dem der Spieler Entscheidungen treffen muss; so wie das im Film selber auch der Fall ist. Der Zuschauer nutzt dazu die Fernbedienung seines Smart-TV, drückt auf das Display seines Tablets oder auf den Controller seiner Spielkonsole – wo auch immer er die Netflix-App installiert hat. Nur wer sich daran gewöhnt hat, das Streaming-Portal über Apple-TV zu nutzen, wird enttäuscht. Dieses Format wird nicht unterstützt.
Anders als die meisten Folgen der bisherigen «Black Mirror»-Serie spielt «Bandersnatch» nicht in einer nahen Zukunft, die mit den negativen Folgen der technologischen Entwicklungen zu kämpfen hat, sondern in der Vergangenheit. Im Jahr 1984, in einer Zeit also, in der sich Computerspiele Geltung verschafften, der Speicher einer Diskette aber bei einem heutigen Handyfoto bei weitem gesprengt worden wäre. Statt intelligenter Science-Fiction legen die Macher einen unheimlichen Mystery-Thriller vor, der sich – je nach Entscheidungen des Zuschauers – zu einem verworrenen Erzähllabyrinth entwickelt, aus dem der Protagonist nicht mehr herausfindet. Wahnvorstellung und Wirklichkeit vermischen sich ebenso wie Kindheitstraumata und Zukunftsängste.
Das ist klug gemacht. Denn die Gefahr bei dieser Art des interaktiven Erzählens besteht darin, dass die Handlungsentwicklung vorhersehbar, banal und konstruiert wirkt, wenn jeweils bloss zwischen zwei Handlungsoptionen gewählt werden kann – schliesslich liegt den Entscheidungen im Leben selten ein binäres Muster zugrunde. Dieser Stolperfalle entgehen die Macher, indem sie der Handlung eine Metaebene hinzufügen und sie mit Rückkoppelungen und Loops anreichern – je nach Entscheidung natürlich. Da weiss man bald nicht mehr, welche Wendung der Plot als Nächstes nehmen könnte, und irgendwann auch nicht mehr, wo einem der Kopf steht.
Je mehr Einfluss man auf die Entwicklung des Plots nimmt, desto mehr entgleitet der jungen Hauptfigur Stefan die Kontrolle. Er fühlt sich gesteuert von einer fremden Macht. Besonders gelungen ist in diesem Irrgarten der sich verzweigenden Erzählpfade eine Referenz an das Medium selber: an Netflix also. In dieser entscheidenden Szene wird der Zuschauer selber in die Handlung hineingezogen.
Dass Netflix sich mit «Bandersnatch» in das Genre des interaktiven Films begibt, ist konsequent. Das Streaming-Portal, das mittlerweile 137 Millionen Haushalte bedient und dieses Jahr über 80 Serien und Filme produzierte, ist das Gegenkonzept zum linearen Fernsehen des letzten halben Jahrhunderts. Netflix will mit seinen Serien nicht den Geschmack der breiten Masse treffen, sondern produziert für eine Vielzahl von Zielgruppen massgeschneiderte Inhalte. Nicht der Programmmanager bestimmt, was über den Schirm flimmert; der Nutzer wählt selber aus.
Mit «Bandersnatch» wird dieses Konzept nun weitergeführt: Es gibt nicht mehr nur für jeden individuellen Geschmack eine eigene Serie. Der Film entwickelt sich nach den ästhetischen Vorlieben und den Moralvorstellungen jedes einzelnen Nutzers.
Ob das Konzept Schule machen wird und auf Netflix bald eine Reihe von interaktiven Inhalten abrufbar sein werden, das muss sich erst noch zeigen. Denn nicht nur ist die Produktion eines solchen Films teurer und aufwendiger als jene eines herkömmlichen Streifens. Die Konsumenten werden damit auch stärker herausgefordert. Zurücklehnen und sich berieseln lassen geht nicht. Es müssen aktiv Entscheidungen getroffen werden. Da wird eine ganz andere Haltung abverlangt. Schliesslich ist man nicht nur Zuschauer, sondern Co-Regisseur.
David Slade und Charlie Brooker: Black Mirror: Bandersnatch. Netflix. ★★★★☆