Der deutsche Klang

Lucerne Festival exemplarisch: Christian Thielemann dirigiert sein künftiges Orchester, die Sächsische Staatskapelle Dresden. Mario Gerteis

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Da haben zwei zueinander gefunden – zwar übernimmt Christian Thielemann erst im nächsten Sommer offiziell die Leitung der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Aber die Vorfreude scheint gross, das war zu hören und zu sehen: Übers Wochenende gastierten die Dresdener für zwei Konzerte am Lucerne Festival, und die Programme waren unverkennbar nach dem Gusto des 52jährigen Maestros gestrickt. Das heisst: gewichtige Romantik aus der Zeit um 1900, von der Hochblüte eines Bruckner und Brahms bis zu den Spätlingen Busoni und Pfitzner.

Pathos und Sinnlichkeit

Man muss mit ästhetischen Wertungen vorsichtig sein. Dennoch scheint unüberhörbar, dass Thielemann und seine musizierenden Sachsen den sogenannt «deutschen Klang» heute wohl am reinsten repräsentieren und auch kultivieren. Ein gewisses Pathos, eine gewisse Schwere sind nicht zu verkennen; die Interpreten ersticken freilich nicht in lastendem Dickicht, sondern plädieren für freudige Sinnlichkeit. Woran die prächtige Streicherschar einen keineswegs unwesentlichen Anteil hat. Richard Wagner schwärmte bei diesem Orchester einst von seiner «Wunderharfe», und das gilt eigentlich bis heute.

Der Klang-Architekt

Die alte deutsche Schule – Thielemann beruft sich gerne auf Furtwängler – trat in den Luzerner Auftritten bei Bruckner fast noch schlüssiger hervor als bei Brahms. Thielemann dirigiert ja sehr eigenwillig, er schlägt kaum den Takt, gibt längst nicht alle Einsätze – er sieht sich als (Klang-)Architekt, der mächtige Verläufe formt, in den Piano-Regionen das emotionale Espressivo wahrt und immer wieder grossdimensionierte Steigerungen aufbaut.

All das geschieht mit zurückhaltenden Tempi, der Dirigent preist die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Er kostet aus und schwelgt mit Mass; das gerät in Bruckners 8. Sinfonie zu atemberaubender Wirkung. Die 1. Sinfonie von Brahms dagegen kommt einige Grade zu kompakt daher; es fehlt an federnder Transparenz. Das erinnert gelegentlich, obwohl imposant präsentiert, an die Klangwucht von gestern.

Eigenartig – am zweiten Abend – die Kombination zweier Stücke aus dem frühen 20. Jahrhundert, aus der romantischen Endphase also. Hier Hans Pfitzner, der wider die «Futuristengefahr» wetterte; dort Ferruccio Busoni, der von einer «neuen Klassizität» träumte. Pfitzners teils sarkastisches, mitunter aber bloss bombastisches Klavierkonzert (nur ein Pianist mit 13 Fingern könne es spielen, spottete Alfred Brendel – Tzimon Barto, zu Recht umjubelt, verfügt offenbar darüber) dauert rund drei Viertelstunden, Ferruccio Busonis «Nocturne symphonique» nicht einmal ein Viertel davon, wiegt dafür doppelt an Substanz: ein hochexpressives Nachtstück, ungeheuer suggestiv.

Entfesselt

Am Schluss der Dresdener Auftritte gab es die erhoffte Zugabe: das klangsatte und blechschmetternde Vorspiel zu Richard Wagners 3. «Lohengrin»-Akt. Dirigent und Musiker voll in ihrem Element, Entfesselung auf dem Podium, Glück im Saal.