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Co-Intendant Nicolas Stemann wirft sich zum Saisonschluss am Schauspielhaus Zürich mit 14 Songs seiner «Corona-Passionsspiele» gegen die Pandemie. Bis auf die Anzahl Stationen hat das nicht viel mit einem Kreuzweg zu tun – egal: Das Theater feiert seine Wiederauferstehung.
Der Theaterabend beginnt schon beim Einlass. Hinter einer grellblendenden Lichtschleuse im Eingang des Zürcher Schiffbaus wartet Gott. Vielleicht ist es auch Jesus, alt geworden, mit weissem Rauschebart und goldenem Heiligenschein keck über dem Hinterkopf. Gott, oder eben sein Sohn, nickt einem milde zu, begrüsst wortlos die gestaffelt hereintröpfelnden Zuschauer. Klar, dass Er nicht die Tickets kontrolliert – das machen die Einlassdamen an der zweiten Tür, und dann wartet eine weitere Mitarbeiterin, in der Hand hält sie eine Schachtel wie eine Monstranz: Jeder Zuschauer bekommt einen Mund-Nasen-Schutz.
Es ist klar: Die Zürcher «Corona-Passionsspiele» können kein normaler Theaterabend werden. Schon gar nicht unter den aktuellen Voraussetzungen für Theater mit Abstandhalten und Hygieneverordnungen. Nicolas Stemann, Co-Intendant des Zürcher Schauspielhauses, hatte während des Lockdowns, als die Theater komplett stillgelegt waren, im Wochenrhythmus Songs veröffentlicht. «Corona-Passionsspiele» nannte er das, denn er befand nicht ganz unironisch, es habe ja schon funktioniert, mit den Mitteln des Theaters die Pest zu besiegen, warum also nicht auch jetzt. Seine «Corona-Passionsspiele» erweisen sich im Rückblick als lustvolles, vielleicht schon historisches Tagebuch eines Ausnahmezustandes. Zum Abschluss der abgebrochenen und kurzfristig wieder aufgenommenen Spielzeit haben Stemann und sein Team die «Corona-Passionsspiele» in kürzester Zeit aus dem Internet auf die Bühne geholt. Mit heisser Nadel gestrickt, und doch: ein trotzig-gelungener Versuch, inmitten all der Widrigkeiten Theater entstehen zu lassen.
Im langgezogenen Schiffbaufoyer entfaltet sich eine Prozession. Den Abstandsmarkierungen auf dem Boden folgend, vorbei an einem Schiedsrichter hoch auf seinem Thron, der wegen Contact-Tracing nach der E-Mail-Adresse fragt. Figuren bevölkern das leere Foyer, aber es sind nur lebensgrosse Puppen, dazwischen die Schauspieler. «Wir lassen Sie nicht alleine», sagt eine Frauenstimme über Lautsprecher, und da erreicht man den Theatersaal.
Die riesige Schiffbauhalle: leer. Keine Tribüne, keine Bühne. Stattdessen Stühle für 100 Zuschauer, mit viel Abstand zu heimeligen Inseln gruppiert, dazwischen mal ein Krankenhausbett oder eine Stehlampe. «The house never forgets», steht an einer Wand, die Nische darunter: vollgestopft mit WC-Papier. Weit weit vorne hinter schwarzgelbem Absperrband der Aufbau für die Band vor übergrosser Leinwand. Ausstatterin Marysol del Castillo hat eine fantastische Theaterkathedrale für diese Passionsspiele erschaffen.
Da durchschneiden grüne und gelbe Lichtfinger die Dämmerung, an den Fenstern fahren lautlos die Rollos herunter: Die Passionsspiele beginnen, das «Distanz-Konzert» startet. Nicolas Stemann am Keyboard: «There’s a virus in China – who cares», singt er, schwungvoll begleitet von seiner Band, fast möchte man mitwippen.
In 14 Songs, analog den 14 Stationen des Kreuzwegs Jesu, lässt der Abend erinnern, wie wir das Virus erst nicht ernst nahmen, dann zu Hause blieben, mit den Tücken der virtuellen Kommunikation kämpften, die Grosseltern nicht besuchen durften, wie Autos und Fussball gerettet wurden, aber die Künste nicht, wie auf Hygienedemos das Virus verlacht wurde, bis zum vermeintlichen Sieg über den Lockdown. Manches ist albern oder banal, anderes wuchtig, und wieder einmal verschränkt Stemann gekonnt Unterhaltung und Ernst. Bis auf die Anzahl Stationen hat das nicht viel mit einem Kreuzweg zu tun – egal: Das Theater feiert seine Wiederauferstehung. Die zwölf Performer, darunter auch Stemanns Tochter Luisa und seine Frau Olivia Vermeulen, werfen sich in die Songs, füllen die riesige Halle mit Theaterlust.
Doch der Spuk geht weiter. Stemann lässt auf der Leinwand die mahnenden Worte von Noam Chomsky erscheinen, das Coronavirus sei ernst genug, aber die Menschheit rase an den Rand einer viel schlimmeren Katastrophe: drohender Atomkrieg und globale Erwärmung.
Dann steht eine weitere Prozession an, jeder bekommt ein Teelicht in die Hand, in langer Schlange geht es quer durch die Eingeweide des Schiffbaus, treppauf, himmelwärts, bis man auf den Balkonen am nächtlichen Innenhof landet. Unten im begrünten Hof singt Olivia Vermeulen «Feldeinsamkeit» von Brahms, im Kerzenschein sucht sie Erlösung. Vom Band erklingt Chomskys Mahnung, Autorin Kimberly Jones schreit ihre Wut über die Ungleichheit von Schwarzen hinaus. Stemanns Chronik endet. Wird sie weitergehen, fragt er. Wir werden sehen. «Wir wachsen, in den Himmel hinein», singt sein Ensemble. Und das ist, trotz allem, ein schöner Trost.