Interview
«Christian Weidmann, warum verlassen Sie Argovia Philharmonic im dümmsten Moment?»

Der langjährige Intendant modernisierte das Aargauer Symphonie Orchester und machte daraus das Argovia Philharmonic. Jetzt tritt er ab.

Christian Berzins
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Dank der Intendanz von Christian Weidmann erlebte das Argovia Philharmonic erfolgreiche Jahre.

Dank der Intendanz von Christian Weidmann erlebte das Argovia Philharmonic erfolgreiche Jahre.

Bild: Fritz Thut (Hallwyl, 23. Juli 2018)

Christian Weidmann, warum verlassen Sie das Argovia Philharmonic im dümmsten Moment?

Christian Weidmann: Für mich mag es der dümmste Moment sein, aber nicht für das Orchester. Ich verlasse trotz der kommenden neuen Herausforderungen eine Komfortzone, es ist sehr viel vorbereitet: Das Orchester hat ungemein grosse Fortschritte gemacht, ein neuer Chefdirigent ist da, bald ein neuer Saal – das Netzwerk funktioniert. Und gerade deswegen frage ich: Wenn schon ein Wechsel, warum nicht gerade jetzt? Ich war acht Jahre im Aargau, jetzt ist es Zeit, die Weichen neu zu stellen: Mit Chefdirigent Rune Bergmann und der Reithalle gehen wir in eine neue Ära. Klar aber ist: Die «Trinität» Chefdirigent, Intendant und Präsident muss funktionieren.

Sie harmonierten mit Präsident Jürg Schärer und Chefdirigent Douglas Bostock bestens. Doch was hätten Sie im Rückblick besser oder ganz anders gemacht?

Grundsätzlich würde ich nichts anders machen, aber es hat natürlich längst nicht alles funktioniert, was wir ausprobiert haben. Wir experimentierten mit Formaten, die gut waren, aber die mehr Geld kosteten, als wir damit einnahmen – etwa beim Frank-Zappa-Projekt. Da merkten wir, wie viel man kommunikativ arbeiten müsste, um das Publikum zu erreichen. Aber wir sind nun mal eine kleine Organisation. Zwischenzeitlich boten wir bis 180 Veranstaltungen. Das ist enorm viel, da überspannten wir den Bogen.

Als Sie 2012 in Aarau starteten, war Dirigent Douglas Bostock schon elf Jahre lang im Aargau, 2019 wurde er verabschiedet. War er zu lange Chefdirigent?

Diese Frage ist nicht mit «Ja» oder mit «Nein» zu beantworten. Nach zehn Jahren in einer künstlerisch verantwortungsvollen Position ist es bisweilen Zeit, zu gehen. Wenn ich aber sehe, wo das Orchester jetzt steht und welche Perspektiven sich Bostocks Nachfolger bieten, muss ich sagen: Es war alles richtig. Wir verbauten uns in den letzten Jahren nichts für die kommenden Jahre: Es steht uns alles offen. Douglas Bostock war lange, aber nicht zu lange im Aargau, aber er hat viel bewirkt.

Die belächelte Umbenennung von «Aargauer Symphonie Orchester» in «Argovia Philharmonic»: Musste das sein?

Ja.

Warum?

Der neue Name gab genau die nötige Reibungsfläche in der Aussenwahrnehmung, damit wir den Prozess starten konnten, um dahin zu gelangen, wo wir heute stehen. Endlich nahm uns die Aussenschweiz wahr. Toni Krein, Präsident des Verbandes Schweizerischer Berufsorchesters, sagte mir: «Wir lächelten über die Namensänderung, aber ihr habt euch damit auf die Karte der Schweizer Orchester gehievt: Seit dem Namenswechsel nehmen wir euch ernst.» Damit fanden der Strategiewechsel und eine Öffnung statt: Man sah, dass das Orchester eine Berechtigung hat – und eine Berechtigung will. Und seit dem 1. Juli sind wir nun Mitglied in eben diesem erlauchten Kreis der Schweizer Berufsorchester – wie das Tonhalle Orchester oder das Basler Sinfonieorchester.

Was soll ein regionales Orchester wie das Argovia Philharmonic erreichen?

Es soll und muss die Region, in der es verankert sein will, breitenwirksam bespielen und möglichst viele demografische Schichten erreichen. Es ist aber entscheidend, dass die Qualität über allem steht. Das Orchester muss sich ständig auf allen Ebenen verbessern und erneuern. Das gilt allerdings für Orchester mit regionaler, nationaler oder internationaler Ausrichtung.

Und was kann ein regionales Orchester erreichen?

Das hängt davon ab, welche Basis geschaffen wird, um über die Region hinaus zu wirken. Wichtig ist, dass man die Arbeit zu Hause gut macht und über längere Zeit hohe Qualität bietet. Was es kann, ist eine Frage der Zielsetzung. Wir haben nun dank der Reithalle eine Riesenchance. Vor Ort werden wir Energien freisetzen, die weit über den Aargau hinausstrahlen können. Setzen wir die Ziele hoch – und damit spreche ich auch für den neuen Chefdirigenten Rune Bergmann –, ist vieles möglich.

Was heisst dieses «vieles»?

Das ist tatsächlich nicht so einfach zu beantworten – und heute noch schwieiger als früher. Ein Künstler, der seine Qualität steigert, will Anerkennung von aussen. Aber zeigt sich das für ein Orchester in einer Nordamerika-Tournee, einem Opus-Klassik-Preis oder einer Millionen Abonnenten auf einem Youtube-Kanal? Oder zeigt sich die Anerkennung ganz einfach in handgeschriebenen Dankesbriefen vom glücklichen, traditionellen Publikum? Es sind jedenfalls alles Zeichen der Anerkennung. Wir brauchen das Publikum, und das Publikum braucht uns. Aber der Begriff Publikum wird dehnbar, ist nicht mehr nur jenes, das im Saal sitzt. Dafür ist ein Saal zu klein und die Botschaft eines Orchesters zu gross – und zu wichtig. Wir müssen für unsere Botschaft viele Wege suchen.

Zeigt uns die Coronakrise, dass es gar nicht so viele Orchester braucht, dass es genügt, wenn in Basel und Zürich auf Top-Niveau Beethoven gespielt wird?

Nein, nur Basel und Zürich allein reichen nicht. Die Basler Musiker haben genauso einen Auftrag für den Kanton Basel, wie wir ihn für den Kanton Aargau wahrnehmen. Aber die Basler Orchester können den Auftrag für den Aargau nicht übernehmen. Wir haben in der Schweiz nicht zu viele Orchester.

Die Konzertsäle füllen sich in diesen Monaten schlecht. Sagt sich das Publikum nicht: «Wenn ich schon ins Konzert gehe, höre ich ein Top-10-Orchester, fahre dafür nach Basel oder Zürich.»

Ich glaube, dass genau das Gegenteil passieren wird. Es ist richtig, dass zurzeit die wenigen Konzerte, die es in Zürich oder Luzern gibt, nicht überlaufen sind. Bei uns im Aargau wird es schwierig sein zu testen, wie viele Leute kommen: Beim ersten Konzert nächsten Sonntag in Baden werden allein schon die Abonnenten den Saal füllen. Ob und wann wir den Einzelkartenverkauf für die kommenden Sinfoniekonzerte starten können, ist heute noch nicht klar. Alle unseren Spielorte werden bestens ausgelastet sein.

Gibt es keine Abo-Kündigungen?

Unsere Abonnenten sind uns in der Corona-Krise treu: Es gibt nur ein paar wenige, die noch unsicher sind. Aber wir erneuerten die Abos vor dem Lockdown. Seit fünf Wochen weiss das Publikum, dass und wie es weitergeht.

Das Budget des Argovia Philharmonic liegt bei 3 Millionen Franken. Was wäre möglich mit mehr Subventionen oder Sponsorengeld: Wenn das Budget bei 3,5 Millionen Franken liege würde?

Wenn die zusätzliche halbe Million verfügbar wäre, um klar auf Inhalte zu fokussieren – ein CD-Projekt vielleicht oder ein Auslandgastspiel –, dann gäbe uns das eine Freiheit, um das Orchester auf die nächste Stufe zu bringen. Momentan haushalten wir mit dem Geld, das wir schon längere Zeit haben – und optimieren beziehungsweise pressen die Zitrone aus. Wir machen alles mit demselben Geld: all das «mehr». Ein höheres Budget ist durchaus eine Zielsetzung für die Zukunft. Die private Finanzierung wird immer wichtiger: Als privater Musikliebhaber lässt sich viel Gutes tun. Aber ich muss betonen, dass es nicht selbstverständlich ist, was hier alles passiert ist. Das Argovia Philharmonic hat eine Heimat. Aber es brauchte jemanden, der das ermöglichte. Uns wurde in meinen acht Jahren Amtszeit immer geholfen, etwas möglich zu machen. Dieses Orchester ist 58 Jahre alt!

Mehr Geld hiesse also nicht, mehr Konzert-Zyklen?

Nein, für mich nicht. Wir haben fünf Zyklen, sie haben sich bewährt.

Die fünf Zyklen gibt es, seit ich denken kann.

Wenn wir im KKL mit seinen 1800 Plätzen wären, könnten wir darüber reden. Aber wir sind im KuK, im Kurtheater oder bald in der Reithalle: Da haben wir 450 bis 550 Plätze. Wir würden einen Zyklus mehr für das genau gleiche Publikum spielen. Wollen wir es vergrössern, müssen wir etwas machen, das die Aussenwirkung steigern kann.

Das Argovia Philharmonic spielt demnach nicht zu wenig, die Musiker und Musikerinnen kommen nicht zu wenig zusammen?

Wir wollen schon mehr spielen, aber einen Inhalt, nicht einen Zyklus mehr. Wichtig ist, dass man das Beste daraus macht, wenn man zusammenkommt. Und da sind wir sehr effizient.