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Kultur
Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg sorgte in der SRF-Sendung Sternstunde Philosophie für Aufregung. Dort sagte er, die heutige Cancel Culture sei «eine Form von Auschwitz.» Das löste in den sozialen Medien Entsetzen aus. Am Telefon nimmt Adolf Muschg Stellung zu seinen Aussagen.
Er ist einer der grossen Intellektuellen der Schweiz, er hat als Schriftsteller und Literaturprofessor von Berufs wegen mit Sprache zu tun – und trotzdem kam ihm folgender Vergleich über die Lippen:
«Die Canceling Culture, die wir heute haben ... das ist im Grunde eine Form von Auschwitz.»
Diese Aussage sorgt in den sozialen Medien und in Online-Medien für Empörung. Geschichtsprofessor Philipp Sarasin etwa schreibt auf Twitter: «Herr Muschg sollte sich in Grund und Boden schämen – und es ist absolut unverständlich, warum der Moderator das unwidersprochen einfach stehenlässt.»
Adolf Muschg vergleicht die sogenannte "Cancel Culture" mit - was!? - Auschwitz (https://t.co/yf6EdER2hW)! Herr Muschg sollte sich in Grund und Boden schämen - und es ist absolut unverständlich, warum der Moderator @YvesBossart1 das unwidersprochen einfach stehen lässt. Unfassbar https://t.co/CsG8PYKuN8
— Philipp Sarasin (@Philipp_Sarasin) April 25, 2021
Adolf Muschg schaltete sich nicht in die Social-Media-Kontroverse ein, nimmt dafür aber gegenüber CH Media am Telefon Stellung. Er sagt: «Ich habe keinen Vergleich gemacht, sondern in Frage gestellt: Wo führt dieser Weg hin? Wieviel Gespräch mit der anderen Seite ist möglich?»
Cancel Culture schliesse Menschen aus dem humanen Diskurs aus, ob es die weissen alten Männer sind oder die Schwarzen oder die Männer oder die Frauen. «Man zeichnet sie», beklagt er. «Und dieses Zeichnen von Menschen hatten wir im Krieg mit dem Judenstern, wir hatten es in der Schweiz mit dem J, das man den Juden in den Ausweis stempelte. Wenn wir Leute vom Diskurs ausschliessen, dann eliminieren wir sie aus der eigenen Welt und bauen uns eine ganz eigene. Das ist ein fürchterliches Fantasma wie Hitlers Rassenkunde.»
Dass daraus nun ein solcher medialer Aufreger geworden sei, habe eigentlich nichts mit dem Gespräch in der Sendung zu tun.
In der SRF-Sendung Sternstunde Philosophie sagte Muschg: «Bei feministischen Diskursen, bei rassistischen Diskursen - ein falsches Wort und du hast den Stempel. Man stempelt Leute ab und von da an kommen sie als Gesprächspartner nicht mehr in Frage.»
Was er an dieser Praxis entsetzlich finde, sei nicht einmal das Inhumane:
«Es ist das Interesselose an den eigenen Widersprüchen. Das ist doch der ganze Spass des Lebens, dass ich lerne, dass miteinander völlig unvereinbare Dinge zusammengehen. Dass diese Widersprüche in meinem Kopf oder in meiner Kultur sind.»
Gegen solche Vereinfachungen wehre er sich. «Dahinter ist immer ein redlicher Impuls. Man will Leute disqualifizieren, die Schwarze disqualifizieren. Das ist sehr ehrenwert. Aber diese Disqualifikation gerät ins genau gleiche faschistoide Fahrwasser des Ausschliessens der Anderen. Nur sind es jetzt andere Andere».
Entschuldigen werde er sich nicht für seine Äusserungen, die er im Fernsehen gemacht habe, sagt Adolf Muschg am Telefon. Denn es sei der Kurzatmigkeit der Medien geschuldet, dass diese nur eine Passage eines fast einstündigen Gesprächs herauspicken, ohne das Gespräch als Ganzes zur Kenntnis zu nehmen.
«Es geht mir ja nicht darum, Inkorrektheit mit Auschwitz gleichzusetzen», sagt Muschg. Tatsächlich leuchtet sein Grundgedanke ein: Er beklagt den Verlust des Sinns für die eigenen Widersprüche, das Fehlen eines Verständnisses für Mehrschichtigkeit und Ambivalenz, also letztlich die Vereinfachung.
Trotzdem müsste er doch wissen, dass Vergleiche mit Auschwitz mehr als problematisch sind. «Ich habe das selbst erlebt, mit meinem Büchlein <Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt> in den 1990er Jahren. Da brauchte ich Polizeischutz. Das Wort Auschwitz ist ein Reizwort.»
Aber er hält daran fest, dass Auschwitz kein einmaliges Ereignis sei.
«Wir wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen. Aber es ist ein Teil der Geschichte des Homo Sapiens. Es ist jederzeit wieder möglich und es war auch nicht der einzige Genozid in der Weltgeschichte. Dass man die Einmaligkeit von Auschwitz hervorhebt, enthält auch einen Selbstbetrug.»
Auschwitz sei eben «keine Ausnahme in der Menschheitsgeschichte». Muschg hat in seinem provokativen Büchlein <Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt> auf diese Möglichkeit hingewiesen. Darin fragte er, wie die Schweiz sich zu verändern hätte, wenn sie einsehen könnte, dass ihre Distanz zu Auschwitz nicht so gross sei, wie sie meint.