In «Ikarus, stirb oder flieg» vereinen Rob Kitsos und Brigitta Luisa Merki in der Choreografie viele Tanzstile. Die Tanzaufführung ist noch bis am 23. Juni in der Klosterkirche Königsfelden zu sehen.
Die Raumgestaltung ist exemplarisch auf die Klosterkirche Königsfelden zugeschnitten. Nach den herausragenden Szenerien der Vergangenheit freut man sich in der Gegenwart über Roman Sondereggers anthrazitfarbene, an Fächer, Flügel und Felsen erinnernde, himmelwärts ragende Skulpturen. Über ihnen hängt ein überdimensionierter, je nach Situation nur teilweise beleuchteter Flügel – passend zur berühmten Geschichte von Ikarus, die von Höhenflug und Absturz erzählt.
Gemeinsam haben der Choreograf, Tänzer und Performer Rob Kitsos und Brigitta Luisa Merki, die Künstlerische Leiterin von Tanz & Kunst Königsfelden, dieses Stück geschaffen und dabei den sakralen Raum auf sensible Weise ausgelotet: Mit stilistisch unterschiedlichstem Tanz sowie einer von Christoph Huber komponierten Musik, die etwa sphärische Klänge mit den kräftigen eines Saxofons und einer hellen Stimme kombiniert. Diese wiederum wird von der dunkel-eindringlichen der algerischen Sängerin Karima Nayt kontrastiert: der geheimnisvolle «Schwarze Engel» in einem dreiaktigen Drama, das mit Ikarus’ Flug beginnt und mit dessen Tod enden würde, wäre da nicht der dritte Teil, in dem Ikarus – in Kitsos’ und Merkis Lesart – zu neuem Leben erwacht und wieder fliegt, um das Unmögliche zu wagen.
Der Flamenco spielt eine starke Rolle, jedoch eine etwas andere als in den bisherigen Produktionen. Die einen Tänzer, die man von früheren Merki-Choreografien in Königsfelden kennt, tragen zu Beginn weiche Schuhe, somit entfällt – fürs Erste jedenfalls – der charakteristische, hart skandierende Flamenco-Rhythmus; die anderen Tänzer treten barfuss auf – und schon finden die dreizehn Contemporary-, Flamenco- und Breaktänzer zu einer Partnerschaft, als ob sie diese seit langem pflegen würden.
Kastagnetten werden beispielsweise als dramaturgisches Mittel eingesetzt, um langsame Bewegungen akustisch zu schärfen; Dialoge zwischen barfuss Tanzenden und solchen, die Schuhe tragen, wirken befreiend und beflügelnd – und schon sind wir wieder beim Thema: Fliegen.
Spiel und Wagnis bestimmen den ersten Teil. Und das bedeutet: Lust an der Bewegung getreu dem Motto «Tanzen ist Fliegen», verbunden mit einer enormen Tempo-Beschleunigung. Immer wieder rennen die Tänzer – nach langsamen, verinnerlichten Szenen ohne Musik – gegen eine felsartig vorspringende Skulptur an, ziehen sich hoch, landen auf dem Plateau und blicken auf das, was sich unter ihnen abspielt. Aber plötzlich ist oben einer allein: Ikarus. Sein Solo ist eine fulminante Folge immer schnellerer Drehungen und Sprünge. Kann das gut gehen, fragt man sich – und dann erfolgt der Absturz: Aber nicht des Tänzers, sondern einer riesigen, auf die Frontwand projizierten Figur. Das ist überwältigend, sodass man für einen Moment vergisst, dass Ikarus nicht in ein Auffangnetz fällt. Der Himmelsstürmer lebt nicht mehr, weshalb die Zeit der Klage und des Trauerns beginnt.
Rob Kitsos und Brigitta Luisa Merki finden dafür ein denkwürdiges Bild. Ikarus’ Freunde ergreifen Stäbe, um den Gestürzten zu stützen, zu betten und zu tragen – doch dieser wehrt sich, will ausbrechen, kann nicht. Aus, vorbei – so will es die antike Geschichte. Aber nicht jene in Königsfelden. Da platzen am Ende zwei Breakdancer in die Szene und vermitteln mit ihrer Leidenschaft diese Botschaft: Abstürzen, aufstehen und erneut fliegen. Alle sind wir angesprochen, denn: Alle sind wir Ikarus.
«Ikarus, stirb oder flieg» In der Klosterkirche Königsfelden, Windisch bis 23. Juni.