Konzentrationslager
Wie der Holocaust-Überlebende Ladislaus Löb seine Rettung in der Schweiz fand

Ladislaus Löb wurde als 11-Jähriger aus dem Konzentrationslager in die Schweiz gerettet. 85-jährig zieht er zurück nach Zürich, mit einer Übersetzung von Kurt Guggenheims Zürich-Roman «Alles in Allem» im Gepäck.

Florian Bissig
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Ladislaus Löb in seiner Wohnung in Zürich Wollishofen «Ich wollte mich anpassen und ein guter Schweizer werden.»

Ladislaus Löb in seiner Wohnung in Zürich Wollishofen «Ich wollte mich anpassen und ein guter Schweizer werden.»

Claudio Thoma

Am 30. Juni 1944 spätabends setzt sich in Budapest ein Zug in Bewegung. In seinen 35 Viehwaggons sind 1700 Menschen zusammengepfercht. Geht es, wie versprochen, Richtung Schweiz, in die Freiheit, oder doch nach Auschwitz mit seinen Gaskammern?

Das Hin und Her zwischen Hoffnung und Verzweiflung durchleben auch der 11-jährige Ladislaus Löb und sein Vater. Die Stunden und Tage im Viehwaggon, nur mit einem Eimer Wasser und einem Eimer für die Notdurft ausgerüstet, sind ein repräsentativer Ausschnitt aus dem halben Jahr, während dem sie um ihr nacktes Leben fürchten mussten.

Der Zug fährt weder nach Auschwitz noch in die Schweiz, sondern zum Konzentrationslager Bergen-Belsen in Niedersachsen. Hier gibt es zwar keine Gaskammern, aber aufgrund der schlimmen Haftbedingungen kamen hier bis Kriegsende Zehntausende von Menschen zu Tode, unter ihnen Anne Frank.

Ladislaus Löb war in Siebenbürgen in einer antisemitischen Gesellschaft aufgewachsen, diskriminiert und ständig als «Stinkjude» beschimpft. Als die Nazis spät im Kriegsverlauf Ungarn besetzten, nahmen sie die Judenvernichtung mit grösster Härte an die Hand. Die ungarische Regierung stand ihnen mit Eifer zur Seite.

Das KZ Bergen-Belsen Bis zur Befreiung des Lagers am 15. April 1945 starben mindestens 52 000 Häftlinge aufgrund der Haftbedingungen.

Das KZ Bergen-Belsen Bis zur Befreiung des Lagers am 15. April 1945 starben mindestens 52 000 Häftlinge aufgrund der Haftbedingungen.

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Das alles hat Löb, über 60 Jahre später, in einem Buch aufgearbeitet. Immer wieder stellt er seinen schockierenden Berichten solche Sätze zur Seite: «Im Vergleich mit den Leiden der meisten Juden in Europa unter den Nazis waren die meinen kaum der Rede wert.»

Tatsächlich hatte Löb, gemeinsam mit den etwa 1700 Menschen aus Budapest, das Glück, aus dem KZ Bergen-Belsen ausreisen zu dürfen – in die Schweiz. Die Gruppe wird gegen Lösegeld freigelassen. Der Kopf hinter den Verhandlungen heisst Rezső Kasztner. Der ungarische Jude verhandelte mit Adolf Eichmann und anderen Nazi-Offizieren während Monaten hartnäckig. Er argumentierte, flehte, bluffte und riskierte sein eigenes Leben. Und vor allem trieb er Koffer voller Geld und Schmuck als Lösegeld und Bestechungsmittel auf.

Wie viele Menschenleben Kasztner durch seine Interventionen retten konnte, ist unbekannt. Fest steht, dass er die knapp 1700 Menschen aus Bergen- Belsen gerettet hat, die am 7. Dezember 1944 morgens um 1 Uhr bei St. Margrethen die Schweizer Grenze überqueren. Von den Schweizer Soldaten werden sie nicht mit Gebrüll und Tritten begrüsst, sondern mit freundlichen Worten und Schokolade. Für den 11-jährigen Ladislaus endet ein Albtraum. Und es beginnt für ihn ein neues Leben, als Schüler in der heilen Schweiz, unter Schülern, die keine Vorstellung davon haben konnten, was er erlebt hat.

Ein halbes Jahrhundert in England

74 Jahre später sitzt Löb in seiner Wohnung in Zürich Wollishofen und erinnert sich. Er habe sich anpassen wollen: sein wie die anderen, ein guter Schweizer werden. Doch habe er auch gespürt, dass seine Geschichte ihn von seinen Mitschülern trennte, und eine Art Stolz dafür empfunden. «Ich hatte Minderwertigkeitsgefühle, aber fühlte mich zugleich als etwas Besseres.»

Nach dem Internat machte Löb in Zürich die Matura und studierte Anglistik. Frisch promoviert fuhr er für ein Jahr nach Brighton, um an der University of Sussex Deutsch zu unterrichten. «Das Jahr zog sich etwas hin.» Aus dem Jahr wurde ein halbes Jahrhundert, aus dem Gastdozenten ein Germanistikprofessor.

Löb schrieb in seiner Funktion einige Bücher, etwa über den Vormärz-Dichter Christian Dietrich Grabbe, auf die er aber nicht viel hält. Im Gespräch macht sich Löb Vorwürfe über seine Arbeit als Germanist. Er hätte sich besser mit «seinen» Themen befassen sollen: mit der Schweizer Literatur und mit dem Judentum.

Erst allmählich hatte er sich mit dem einen oder anderen Artikel der jüdischen Kultur zugewandt. Wie viele KZ-Überlebende befasste er sich mit seiner persönlichen Geschichte erst nach Erreichen des Pensionsalters ausgiebig. Es begann mit einer Übersetzung des Romans «Neun Koffer» des ungarischen Schriftstellers Béla Zsolt, der auch zur Kasztner-Gruppe gehörte. Von seinem Verleger ermuntert, schrieb er darauf ein eigenes Buch. «Geschäfte mit dem Teufel» ist eine Mischung aus Autobiografie und historischer Recherche. Ein Ziel des Buches ist, Rezső Kasztner zu zu rehabilitieren, der nach Kriegsende in Israel als Nazi-Kollaborateur angefeindet und ermordet wurde. Löbs Buch bemüht sich aber um Ausgewogenheit und gibt auch problematischen Aspekten Raum.

Das zentrale moralische Problem ist, wie Kasztner einige retten und die anderen sterben lassen konnte. Wie wählt man die Glücklichen aus, und wie kommt man damit klar, dass man Unglückliche zurücklässt? Kasztner konnte das moralische Problem nicht lösen und handelte trotzdem. «Hätte er etwa gar niemanden retten sollen?», fragt Löb rhetorisch.

Kasztners Problem ist auch das Problem, das alle Holocaust-Überlebenden quält: Warum lebe ich – und warum andere nicht? Statt den Überlebenden zu helfen, ihre Schuldgefühle zu bewältigen, stocherten insbesondere Stimmen aus Israel auch noch in deren Wunden. Das musste auch Löb aushalten.

Zehn Jahre, nachdem Löb mit seinem Kasztner-Buch gewissermassen das Jüdische von seiner persönlichen To-do-Liste streichen konnte, hat er sich nun auch um die Schweizer Literatur verdient gemacht. Er hat während der letzten drei Jahre Kurt Guggenheims Roman «Alles in Allem» ins Englische übersetzt. Auf das monumentale Werk von über tausend Seiten hatte ihn ein Bekannter hingewiesen. Löb war sofort begeistert. «Und bei der Lektüre bekam ich immer mehr Heimweh nach Zürich.» Das mag mit dazu geführt haben, dass Löb mit seiner Frau vor etwa anderthalb Jahren nach Zürich umgezogen ist. Im umfangreichen Projekt einer englischen Übersetzung sah er einen neuen «Berg» von einer Aufgabe, in den er sich verkriechen konnte. Genau so, wie er es mag.

Nach dem Brexit musste er weg

«Alles in Allem» ist der Zürich-Roman schlechthin. Mit einem Personal von rund 140 Figuren und einer Handlung, die sich über fünf Jahrzehnte erstreckt, zeichnet der Roman ein sozialhistorisches Panorama von Zürich wie kein zweiter und schenkt dabei dem jüdischen Milieu besondere Beachtung. Die Verortung der Handlung an allen möglichen Ecken der Stadt Zürich macht die Lektüre zu einem Vergnügen für Leser, die Zürich gut kennen. Löb vergleicht «Alles in Allem» mit Joyces «Ulysses» und Döblins «Berlin Alexanderplatz», obwohl Guggenheim nicht ein modernistischer, sondern ein konventionell erzählender Romancier ist.

Nicht nur Guggenheim, der nicht zum allerwichtigsten Kreis der Schweizer Literaturgeschichte gezählt wird, sondern die Schweiz und ihre Verdienste überhaupt, hört Löb gar nicht gern schlechtgeredet. «Ich ärgere mich, wenn es immer heisst, die Schweizer seien allzu selbstzufrieden», sagt er.

Den Umzug in die Schweiz hat Löb bisher keine Sekunde bereut. «Ich bin immer noch im Euphorie-Stadium», sagt er schmunzelnd – auf Zürichdeutsch, mit nur einem Hauch von einem ungarischen Akzent. Über die britische Politik hatte sich Löb schon länger geärgert, die war für ihn schon immer «unter jedem Hund», wie er sagt. Doch nach dem Brexit konnte er sie nicht länger ignorieren.

Zurück nach England will Löb nicht mehr. In seiner Zürcher Wohnung schreibt er, mit Blick auf den Üetliberg, bereits an einem neuen Buch: eine Fortsetzung der Autobiografie, welche seine Geschichte nach dem Holocaust weitererzählt. Löb hat einen neuen Berg gefunden, in dem er sich verkriechen kann.

Ladislaus Löbs Zug fuhr nicht nach Auschwitz, wie jener der meisten seiner Verwandten. Er fand seine Rettung in der Schweiz. Kann das, was damals passierte, wieder passieren? Löb zögert nicht: «Ja. Wenn die Umstände entsprechend sind. Doch in der Schweiz scheinen mir solche Umstände fast nicht denkbar.»