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Patricia Kopatchinskaja, Weltklasse-Geigerin spricht im Interview über ihre Sprechrolle in «Pierrot lunaire».
Patricia Kopatchinskaja: In der alten Sowjetunion wussten wir kaum etwas von der neuen westlichen Musik, wir kannten nur Bach, Beethoven, Tschaikowsky, Rachmaninow, Schostakowitsch. Als ich 13-jährig nach Wien kam, entdeckte ich all diese neue Musik, angefangen mit der Zweiten Wiener Schule: Schönberg, Berg, Webern. Man kann sich das im freien Westen vielleicht schwer vorstellen, aber für mich war diese Musik gleichbedeutend mit Freiheit, auch individueller und politischer Freiheit. Ich sog alles begierig auf und habe sehr viel davon selber gespielt. Und bis jetzt fühle ich eine Verpflichtung, diese Schätze zu pflegen und weiterzugeben.
Von Vivaldi über Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, Beethoven bis zu Brahms hatten wir zweihundert Jahre lang eine gewissermassen ungebrochene Tradition von musikalischen Formen und Ausdrucksmitteln, sozusagen einen geordneten Kosmos. Schönberg hat diesen Kosmos zum Explodieren gebracht, ähnlich wie Einstein gleichzeitig die klassische Physik. Es ist kaum ein Zufall, dass Schönberg seine neue Musiksprache gerade mit diesem absurden Clown, dem Pierrot, gefunden hat, der ausserhalb der geordneten bürgerlichen Welt steht. Pierrot hat ja auch auf die Malerei gewirkt, zum Beispiel jene von Ensor, Picasso und anderen. Diese befreiende Wirkung des Pierrot wirkt in der Musik bis heute nach.
Das Sprachliche muss sehr deutlich und verständlich bleiben und darf jedenfalls nicht durch «Gesang» zugedeckt werden. Nebenbei bemerkt täte das Sprechende jeder Musik gut, auch der instrumentalen, zum Beispiel bei Bach und Mozart.
Früher hatte ich nur kleine Zugaben mit Stimme gemacht. Mehrmals habe ich den «Pierrot» als Geigerin gespielt und immer gewünscht, einmal die Sprechrolle zu übernehmen. Als ich vor drei Jahren wegen Armschmerzen kaum mehr üben konnte, habe ich die Zeit genutzt, um den «Pierrot» zu lernen.
Vielleicht bin ich mir als Instrumentalistin auch in der Rolle bewusster über den Beitrag der Instrumentalstimmen und suche vor allem das Mit- und Gegeneinander im Ensemble.
Pierrot kam aus der Welt der Commedia dell’Arte und des Variétés, er ist ein komödiantischer Clown. Wenn Schönbergs Pierrot «mit groteskem Riesenbogen» zuerst auf seiner Bratsche und dann auf der Glatze seines Widersachers Cassanders kratzt, so kann ich mir nicht verkneifen, das anzudeuten. Solche szenischen Elemente haben sich in der Improvisation ergeben, bleiben aber im Hintergrund.
«Pierrot» ist zu kurz für einen ganzen Abend und kann gleichzeitig auf die Dauer die Interpreten und das Publikum ermüden. Wir haben deshalb schon früh Instrumentalstücke eingefügt, zum Beispiel Chopin, Berio und andere. Dann haben wir entdeckt, dass Schönberg selber auf einer Spanientournee sein eigenes Arrangement des Kaiserwalzers mit dem «Pierrot» kombiniert hat. Deshalb spielen wir jetzt zwischen den drei Teilen des «Pierrot» die Strauss-Walzerarrangements von Schönberg, Berg und Webern, das passt zu Variété und Music-Hall und ist ein schöner Kontrast.
«Pierrot» ist mir ans Herz gewach- sen, den werde ich mein Leben lang machen. Soeben habe ich auch die Gesangsrolle des Geheimpolizisten, des Gepopo in György Ligetis «Mysteries of the Macabre», gelernt und mit der Camerata Bern aufgeführt: Ein Riesenspass, auch dabei werde ich bleiben. Ein weiteres Stimmstück schreibt uns Francisco Coll, der geniale junge spanische Komponist, der in Luzern lebt. Diese Stimmrollen eröffnen mir eine weitere neue Welt.
Pierrot lunaire 21. Februar, Kultur- und Kongresshaus, Aarau. 22. Februar, Landgasthof Riehen. 7. April, Theater Rigiblick, Zürich.