Gesellschaft
Warum Politiker in der Deutschschweiz weniger Bücher schreiben als in der Romandie und sonst auf der Welt

Wer in der Schweiz in die Regierung will, muss kein Buch geschrieben haben. Ausser, er oder sie kommt aus der Romandie. Warum das so ist. Und wann Deutschschweizer Politiker doch noch zur Feder greifen.

Samuel Christian Thomi
Drucken
Prototyp der Intellektuellen: Thomas Jefferson, der dritte US-Präsident, verfasste nebst der Unabhängigkeitserklärung auch zahlreiche Bücher.

Prototyp der Intellektuellen: Thomas Jefferson, der dritte US-Präsident, verfasste nebst der Unabhängigkeitserklärung auch zahlreiche Bücher.

Bettmann Archive

Was Politiker sagen, darüber berichten wir Medien täglich. Was sie lesen, das erzählen sie ab dieser Ausgabe in der neuen Serie im «wochenende»-Bund. Doch was schreiben eigentlich jene, die das Land regieren?

Im Ausland ist klar: Wer an die Spitze will, präsentiert seine Ideen und sich selbst dem Volk in einem Buch. Barack Obama, Angela Merkel, Emmanuel Macron oder Sergio Mattarella: Alle haben sie mindestens eines geschrieben. Diese Bücher tragen Titel wie «Hoffnung wagen», «Mein Weg», «Revolution: Wir kämpfen für Frankreich» oder «Zusammen wachsen».

«Ob Bücher mich zu einem besseren Präsidenten gemacht haben, kann ich nicht sagen», sagte Obama eine Woche vor dem Rücktritt zur «New York Times». «In dieser schnelllebigen Zeit gibt mir das Lesen aber die Möglichkeit, auch mal abzuschalten und andere Perspektiven einzunehmen.» Und so habe er auch als Präsident, wenn immer möglich, jeden Abend in einem Buch geschmökert.

Birchermüesli und Bücher

Für Belesene wie Obama – bis auf Donald Trump waren auch seine Vorgänger literarisch äusserst interessiert – gibt es in Europa einen stehenden Begriff: Homme de Lettres. Die Geschichte dieses Politiker-Typs (und der Femmes savantes, wie belesene Politikerinnen genannt werden) lässt sich Jahrhunderte zurückverfolgen. Heute sind diese Männer und Frauen von Welt, so die wohl treffendste Übersetzung, jedoch zunehmend als Classe politique oder Elite verschrien.

Und die Schweiz? «Bei uns gibt es diese Tradition nicht», erklärt Peter Rothenbühler. «Besser gesagt: In der Deutschschweiz gibt es diese Hommes de Lettres unter den Politikern eigentlich nicht.» Als Journalist, der beidseits des Röstigrabens je eine Redaktion geleitet hat, kennt sich der 69-Jährige bestens aus mit Unterschieden der deutschen und französischen Polit-Kultur. Auch alt Bundesrat Pascal Couchepin kennt er gut. Der Walliser gilt als Animal politique.

«Zu meinem grossen Erstaunen», sagt Rothenbühler, «sprachen wir, wenn ich ihn besuchte, aber fast nur über Bücher.» Rothenbühler erinnert sich wie Couchepin zuhause in Bern nur Birchermüesli im Kühlschrank und auf dem Tisch einen Stapel Bücher hatte. Für Couchepin sei Literatur eben «Inspiration pur, auch für die Politik». Trotz seinem «grossen Ego» habe der gewiefte Debattierer aber auch eine bescheidene Seite. So habe er seine eigenen Gedanken zur Politik beispielsweise erst nach dem Rücktritt in einem langen Gespräch mit einem Philosophen als Buch veröffentlicht.

Der Polit-Buch-Röstigraben

Auf Anfrage der «Schweiz am Wochenende» hat die Schweizerische Nationalbibliothek (NB) ihren Onlinekatalog nach amtierenden und lebenden alt Bundesräten durchforscht. Mit zwölf Eintragungen am meisten publiziert seit der Wahl hat Kaspar Villiger (siehe Tabelle). Der Freisinnige Ingenieur und Unternehmer, der später die UBS durch die Krise führte, ist in der Öffentlichkeit zwar nicht als Intellektueller in Erinnerung. Doch als alt Bundesrat hat Villiger bereits ein halbes Dutzend Bücher verfasst.

Eben- so überraschend die weiteren Ränge: Auch Arnold Koller, Flavio Cotti und Adolf Ogi (je 5 Publikationen) sind nicht als grosse Visionäre in Erinnerung. Erst auf Rang drei finden sich mit Ruth Dreifuss, Pascal Couchepin, Micheline Calmy-Rey und Didier Burkhalter (je 4 Publikationen) Bundesräte, die das grosse Wort nicht scheuten. Von einem Drittel aller Bundesratsmitglieder – darunter durchaus Charakterköpfe mit Sendungspotenzial wie Alain Berset, Ignazio Cassis oder Simonetta Sommaruga – liegt in der Nationalbibliothek keine Buchkopie. Und ja: Villiger zum Trotz stammt die Hälfte der literarisch aktiven Bundesräte aus der lateinischen Schweiz – also überproportional viele.

Da ist er wieder, der Polit-Buch-Röstigraben. Doch es wird noch komplizierter: «Die Romandie ist nicht einfach ein Abklatsch Frankreichs», betont Peter Rothenbühler. «Während in der französischen Republik praktisch alle Präsidenten, bevor sie ins Élysée kommen und nach dem Weggang, grössere Bücher schreiben, und jeder, der es politisch zu etwas bringen will, ebenfalls seine Sicht der Dinge in Büchern bekannt gibt, hat kaum je ein Mitglied unserer Landesregierung vor der Wahl ein Buch geschrieben», sagt Rothenbühler.

Ausnahme Jean Ziegler

Absolute Zahlen, wie oft Schweizer Politiker schreiben, gibt es allerdings nicht. Klar ist nur: Jedes Jahr erfasst die Nationalbibliothek etwa 9500 Bücher aus Schweizer Verlagen und 6000 weitere Publikationen. Übersetzt wird davon ein Bruchteil: Pro Helvetia und CH Stiftung als grösste Förderer unterstützten letztes Jahr 74 respektive 8 Übersetzungen, vorab Belletristik oder Sachbücher zu Kunstthemen. Fazit: Die ohnehin wenigen Polit-Bücher schaffen kaum je den Sprung in einen anderen Sprachraum.

Eine Ausnahme ist Jean Ziegler. Der umtriebige Soziologe publiziert wie kein anderer – zuletzt «Warum wir weiter kämpfen müssen: Mein Leben für eine gerechtere Welt». Und er schreibt auf Französisch, obwohl der 84-Jährige in Thun zur Welt kam. «Die literarische Kreation gehört zum politischen Mandat», sagt der Genfer zwischen zwei UNO-Sitzungen. «Als Händlerrepublik waren Intellektuelle in der Schweiz aber nie gefragt.» Entsprechend bestünden auch keine Ansprüche an Politiker, sich literarisch zu bewähren.

Und Ziegler ergänzt: «Schreiben ist ja auch keine unschuldige Sache.» Mit Verweis auf sein Buch «Die Schweiz wäscht weisser» und die Verurteilungen und den Entzug der parlamentarischen Immunität als Nationalrat sagt er: «Man kann auch fürchterlich an die Kasse kommen.» Er habe deshalb zwar noch Schulden, beschwere sich aber nicht: «Meine Bücher werden gelesen und immer direkt in die wichtigsten Sprachen übersetzt.»

Der alltäglichen Politik fehlt die Kultur

Ein anderer bekannter Politiker, der schon viel publiziert hat, ist Dick Marty. Der ehemalige Tessiner Staatsanwalt, FDP-Ständerat und Europarats-Abgeordnete sagt aber von sich: «Ich bin kein Homme de Lettres». Dass er eben erst trotzdem seine Memoiren publizierte, erklärt der 73-Jährige mit einer schweren Krankheit. «Um mein Gedächtnis wieder zu trainieren, habe ich nach Erinnerungen gesucht, und begann darüber nachzudenken.» Da seine Mutter eine Romande war, schrieb der Strafrechtler als zusätzliches Erschwernis auf Französisch.

«Vielleicht ist es Nostalgie», sinniert Dick Marty, «aber die Zeiten, als man politische Konflikte noch im wirklich noblen Sinn ausfocht, vermisse ich.» Dann fügt der Tessiner Mann von Welt an: «Der alltäglichen Politik fehlt zunehmend die Kultur.» Und so wurde aus seinem Erstling «Une certaine idée de la justice» ein grundsätzliches Buch. Bereits lägen Anfragen aus der Südschweiz vor. «Das eigene Buch zu übersetzen, finde ich aber komisch», sagt Marty. Lacht. Und ergänzt: Nein, eine deutsche Übersetzung sei noch kein Thema.

Von einer solchen Ausgangslage kann Nationalrätin Ada Marra (SP/VD) nur träumen. Ist doch der Sprung über den Röstigraben mit einem inhaltlichen Buch bedeutend schwieriger. «Tu parles bien français pour une Italienne» schlug in der Westschweiz nach der Abstimmung über die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation zwar hohe Wellen. Seither sucht die 45-jährige Schweizerisch-Italienische Doppelbürgerin, die mit einem Vorstoss die Abstimmung überhaupt erst ausgelöst hatte, ennet des Röstigrabens jedoch einen Verlag. Auf dass ihr Buch «auch in der Deutschschweiz eine Debatte über Identität» auslöse.

Paris ist gleich fremd wie Zürich

Anruf beim kleinen Westschweizer Verlag Les Éditions de l’Aire. Verleger Michel Moret ist seit Jahrzehnten im Geschäft. «Bei einem guten Projekt lässt sich zwar immer Geld für eine Übersetzung finden», sagt er. Vor 20 Jahren sei der Sprung über den Röstigraben aber einfacher gewesen. Heute sei alles personalisiert. Sprich: Ein bekannter Name, etwa ein Ex-Politiker, habe die grössten Chancen. Von diesen verlegt l’Aire derzeit gleich mehrere. Seit dem Rücktritt vor einem Jahr hat Didier Burkhalter eben sein drittes Buch – den Roman «Mer porteuse» – auf Französisch veröffentlicht.

Im November soll sein Bundesrats-Rückblick («Wo sich Berg und See begegnen») auf Deutsch erscheinen, das erste («Kinder der Erde: Geschichten aus aller Welt») wurde sofort übersetzt. Michel Morets jüngster Coup: Joseph Deiss meldet sich dieser Tage mit «Quand un cachalot vient de tribord» in der politischen Debatte zurück. Nach jahrelanger, beidseits bereichernder Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU analysiert der Alt-Bundesrat darin aus CVP-Sicht die neue, angespannte Situation. Schaffen welsche Politiker mit ihren Büchern immerhin den Sprung nach Frankreich einfacher? «Das ist mindestens so schwierig», sagt Michel Moret. «Punkto Literatur ist Paris etwa gleich weit weg wie Zürich.»

Nebst Übersetzungen spielen am Röstigraben auch die Medien eine Rolle. «Zwar unterscheidet sich die Literatur auf beiden Seiten der Saane», sagt Ruth Gantert. «Aber sie hat auch Parallelen.» Laut der Redaktionsleiterin von «viceversaliteratur.ch», einem auf die Schweizer Literaturen und auf Buchbesprechungen über die Sprachgrenzen hin- aus spezialisierten Portal, gilt es all dies zu berücksichtigen. «Wie bei uns wird auch der Literatur der Romandie vorgehalten, sehr innerlichkeitsbezogen und weniger auf das Weltgeschehen ausgerichtet zu sein.» In Frankreich sei die Gesellschaftskritik viel stärker ausgeprägt, was sich auch in der Literatur von Politikern zeige. «Und ja», konstatiert die Zürcherin, «es braucht Mut, ein Buch zu schreiben. Gerade als Politikerin.» Schliesslich werde man daran auch gemessen.

Selbstbewusst aufzutreten war schon immer die Stärke der Amerikaner. Und nicht der Deutschschweizer, so belesen die Politiker hier auch sein mögen. Dort, in den USA, ist wohl auch der Anfang der Politiker-Literatur zu suchen. Und zwar bei einem Vorvorvorgänger von Barack Obama. Thomas Jefferson (1743–1826), Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und dritter Präsident, gilt als Prototyp des Intellektuellen. Und der, ganz Homme de Lettres, sagte bekanntlich: «Ich könnte ohne Bücher nicht leben.»