Theater
Sie führte ein Doppelleben zwischen Rampenlicht und Krankenhaus

Eine schwere Krankheit hätte ihren Weg bestimmen können. Schauspielerin Miriam Maertens entschied anders.

Annika Bangerter
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Seitdem sie eine neue Lunge transplantiert bekommen hat, kann Miriam Maertens wieder auf der Bühne singen. Aktuell im Stück «Endstation Sehnsucht».

Seitdem sie eine neue Lunge transplantiert bekommen hat, kann Miriam Maertens wieder auf der Bühne singen. Aktuell im Stück «Endstation Sehnsucht».

Toni Suter / T+T Fotografie

Sie zischt ins Mikrofon, presst die Wörter, lässt ihre Stimme anschwellen, vibrieren. Miriam Maertens steht auf der von Nebel geschwängerten Bühne des Zürcher Schauspielhauses. Die Augen geschlossen, singt die 48-Jährige Lieder von Tom Waits – und untermalt das düstere Treiben im Stück «Endstation Sehnsucht». Vor 6 Jahren hätte sie dies nicht geschafft. Damals war Maertens’ Lunge an ihrer eigenen Endstation angekommen. Die Erbkrankheit Cystische Fibrose hatte sie zerstört. Wegen eines Gendefekts bildet der Körper dabei einen zähen Schleim. Im Fall von Miriam Maertens verstopfte dieser die Lunge.

Im Alter von 42 Jahren war der Sauerstoff in ihrem Körper so knapp, dass die Fingernägel beim kurzen Spaziergang mit dem Hund blau anliefen. Und bei einer Polizeikontrolle fehlte ihr die nötige Puste für den Alkoholtest. Trotzdem stand Maertens auf der Bühne, spielte zweistündige Stücke. Heute sagt sie dazu: «Das war vollkommen wahnsinnig.» Sie sitzt in der Cafeteria des Zürcher Schauspielhauses, schlürft einen Latte macchiato. An den Wänden hängen Fotos früherer Produktionen. Auch Maertens ist darauf zu sehen. Seit 13 Jahren ist sie festes Mitglied des Ensembles. Die meiste Zeit davon führte sie ein Doppelleben. Eines im Rampenlicht, eines in Krankenhäusern

Zentrum der guten Laune

Als sie etwas über 40 Jahre alt war, drohte es aufzufliegen. Ihre Losung «verschieben wir es auf morgen» nahm lebensbedrohliche Züge an. Es ist diese Passage der Figur Scarlett aus dem Klassiker «Vom Winde verweht», die sie durchs Leben trug. Ein Leben, das sie nicht der Krankheit widmen wollte. Sondern dem Schauspiel, der Bühne, ihrem Sohn. Sie schaffte es mit einer Mischung aus Verdrängung, Selbstdisziplin und Starrsinn. Entgegen der Prognose ihres ersten Arztes hat sie ihren fünften Geburtstag zigmal überlebt. Entgegen allen Annahmen ist sie etablierte Bühnenkünstlerin. Und entgegen allen Ratschlägen bekam sie ein Kind.

Nur die engsten Freunde und die Familie wussten von ihrer Krankheit. Die meisten Kollegen und Regisseure hatten keine Ahnung, dass Maertens dreimal pro Tag inhalieren musste, dass bei ihr zu Hause ein Sauerstoffgerät brummte und immer wieder Antibiotika durch ihre Venen flossen. «Als die Kranke gesehen zu werden, war stets der Albtraum von Miri», erinnert sich ihre Freundin und Ensemble-Mitglied Julia Kreusch. Ihr kraftvolles und positives Auftreten habe dabei nie aufgesetzt gewirkt. Im Gegenteil: «Sie war und ist in unserem Ensemble ein Zentrum der guten Laune und Herzlichkeit.»

«Geben Sie das Kind weg»

Von klein auf wusste Miriam Maertens: Sie will Schauspielerin werden. Wie ihr Vater und dessen Eltern. Auch ihre beiden älteren Brüder Michael und Kai schlugen diesen Weg ein. Aufgewachsen sind die drei Geschwister in einer Siedlung, etwas ausserhalb Hamburgs. In diesem beschaulichen Düpenautal wurde das Treiben dreimal pro Tag unterbrochen, wenn die Mutter rief: «Miri, kommst du bitte zum Abklopfen rein!» Dann musste sich das Mädchen auf einen körperlangen Keil legen. Die Mutter oder der Bruder bearbeiteten den Brustkorb so, dass sich das zähe Sekret in der Lunge löste und das Mädchen es abhusten konnte. Sie empfand es als Tortur. Auch weil es ihr vor Augen führte, dass sie nicht wie die anderen Kinder war.

Heimat: Bühne

Miriam Maertens stammt aus einer Hamburger Schauspielerfamilie. Ihr Vater, wie auch dessen Eltern, arbeitete am dortigen Thalia Theater. Maertens wurde 1970 geboren und wuchs als jüngstes von drei Geschwistern am Stadtrand von Hamburg auf. Sie liess sich an der Hedi-Höpfner-Schule zur Schauspielerin ausbilden und arbeitete unter anderem in Berlin, Bremen und Bern. Seit 13 Jahren ist sie am Schauspielhaus Zürich angestellt. Auch ihr Sohn Joshua (17 Jahre) stand dort schon gemeinsam mit ihr auf der Bühne.

Die Mutter liess nicht locker. Sie forderte das Abklopfen, Inhalieren und die autogenen Drainagen täglich ein. Heute ist ihr Miriam Maertens dafür dankbar: «Sie hat den Boden für meine Disziplin gelegt. Obwohl meine Mutter sehr konsequent war, hat sie nie das Leben vergessen. Sie liess mich Dinge tun, die zwar blödsinnig waren, aber Spass machten.» Etwa als Teenager in verrauchten Bars rumzuhängen.

Als die Eltern von der Krankheit erfuhren, war ihre Tochter ein Jahr alt. Damals, zu Beginn der 70er-Jahre, war nur wenig über die Erbkrankheit Cystische Fibrose bekannt. Die Diagnose galt als frühes Todesurteil. Auch der Arzt der Familie Maertens prognostizierte dem Mädchen eine Lebenserwartung von lediglich fünf Jahren. Und empfahl den Eltern, ihre Tochter wegzugeben, «um sich und die Geschwister nicht unglücklich zu machen».

Kein Leben ohne Krankheit

Das Paar reagierte empört. Andere Eltern entschieden sich jedoch für diesen Weg, wie Maertens im Alter von elf Jahren erfuhr. Damals verbrachte sie mehrere Wochen in einer Spezialklinik für Kinder mit Cystischer Fibrose – und lernte dort Mia kennen. Ein etwas älteres Mädchen, das nie Besuch bekam und in Heimen aufwuchs. Es war eine Begegnung, die Maertens prägte: «Diese Krankheit schafft ein Kind mental alleine nicht.» Mia sei zwar mit Medikamenten vollgestopft worden, doch kämpfen mochte sie schon bald nicht mehr.

Sie starb im Alter von 20 Jahren. «Da wurde mir klar: Die Ärzte sind chancenlos, wenn der Wille ihrer Patienten fehlt», sagt Maertens. Ihre eigene Familie hielt zu ihr. Bedingungslos. So fuhr der sechs Jahre ältere Bruder Michi mit ihr ins Klassenlager, um ihr beim Abklopfen zu helfen. Und als sie in die Münchner Spezialklinik kam, liess sie ihre Mutter keinen Tag alleine. Nur per Zufall erfuhren die Eltern von der neuen Therapie. Bis dahin blieb die Cystische Fibrose bei ihr unbehandelt.

Ein Leben ohne die Krankheit gab es für Maertens nicht. Sie ist damit aufgewachsen. Und «reingewachsen», wie sie sagt. «Auch wenn ich den Ärzten alles zu verdanken habe, sagte ich zu manchem von ihnen nein. Oder: Das muss ich haben.» Wie zu ihrem Kinderwunsch. «Ich wusste, wenn ich kein Kind habe, dann wird meine Seele krank. Und wenn das passiert, schaffe ich es mit der Krankheit nicht.» Ihr Sohn ist heute 17 Jahre alt.

Auch zu einer Lungentransplantation sagte sie jahrelang Nein. Zu gross war ihre Angst, die Operation nicht zu überleben. Zu gross die Sorge, den Sohn viel zu früh verlassen zu müssen. Erst als die Ärzte ihr noch vier Monate gaben, liess sie sich auf die Liste der Organempfänger setzen. Ihr behandelnder Arzt Nikolaus Kneidinger sagt, viele Patienten mit Cystischer Fibrose stünden einer Listung zurückhaltend gegenüber: «Sie sind in der Regel an die Erkrankung adaptiert, medizinisch gut vorgebildet und untereinander vernetzt.

Sie kennen die Risiken einer Transplantation, wie etwa eine frühe Abstossungsreaktion der Lunge.» Doch das Aufschieben berge Risiken: «Entscheiden sie sich sehr spät, ist die Krankheit mitunter zu weit fortgeschritten oder es fehlt schlicht die Zeit, um ein passendes Organ zu finden», sagt der Lungenspezialist. Miriam Maertens hatte Glück: Sie erhielt rechtzeitig eine Lunge, die ihr Körper annahm. Das war vor sechs Jahren.

Liebeskummer löste Schübe aus

Es ist kurz vor 18.30 Uhr. Im Schauspielhaus Zürich guckt Miriam Maertens auf die Uhr, sie muss in die Maske. Während die Visagistin Make-up aufträgt, besprechen sie Maertens’ bevorstehende Lesung. Die Schauspielerin hat ihr Doppelleben mit der Transplantation beendet. Sie begann, das Drehbuch ihres Lebens aufzuschreiben. Es erschien vor zwei Wochen. Nie habe sie Tagebuch geschrieben, erzählt Miriam Maertens. Doch weil es ihr mit der neuen Lunge so gut wie nie zuvor ging, drängte es sie: «Wie man sich an das Schlechte gewöhnt, gewöhnt man sich auch rasch an das Gute. Ich wusste, ich muss meine Erfahrungen schnell aufschreiben.»

Dabei gibt sie viel Preis. Etwa die Ängste, wegen ihrer Krankheit nicht als Frau und als Geliebte zu genügen. Oder die grosse Sorge, ihren Angehörigen und Freunden zur Last zu fallen. Eindrücklich beschreibt sie auch, wie Trennungsschmerz und Liebeskummer sie derart schwächten, dass ihr die Kontrolle über den Körper entrissen wurde. Heftige Krankheitsschübe waren die Folge.

Maertens tritt aus der Maske im Schauspielhaus Zürich. Ihre Haare sind zu einem seitlichen Zopf geflochten, der Lidschatten lässt ihre grün-blauen Augen noch stärker funkeln. Wirft sie den Kopf in den Nacken und lacht, wirkt sie fast jugendlich. Ohne Medikamente kommt sie nicht aus und wegen des geschwächten Immunsystems muss sie immer noch vorsichtig sein. Wie lange diese neue Kraft bei ihr bleiben wird, wisse sie nicht, schreibt sie im Buch. Gesundheitliche Komplikationen könnten wieder auf sie zukommen. «Aber jetzt noch nicht. Jetzt darf ich leben.» Zumindest die Cystische Fibrose ist besiegt: «Mit meiner alten Lunge wurden auch die kranken Zellen entfernt», sagt Maertens.

Mit ihrer Puste haucht sie nun gar den düsteren Songs von Tom Waits Leben ein. Wie an diesem Abend in Zürich. «I’m lost» – ich bin verloren –, singt Miriam Maertens betörend. Die Inhalier- und Sauerstoffgeräte hat sie entsorgt.

Das Buch: Miriam Maertens: «Verschieben wir es auf morgen», Ullstein- Verlag, 266 Seiten, Fr. 27.90