Im Stapferhaus geht es um die Schweiz. «Heimat» ist ein Parcours von der Chilbi bis ins Universum – und zurück.
Vor dem Zeughaus steht das Riesenrad länger, als man’s von Volksfesten gewohnt ist. Es bleibt als Wegweiser, Leitmotiv und nicht zuletzt als Personenlift Teil der Ausstellung, die für ein Jahr als interaktive Denkfabrik in Lenzburg ankert: «Heimat» heisst der neue Untersuchungsgegenstand im Stapferhaus. Der Untertitel – «Eine Grenzerfahrung» – raubt den stabilen Grossbuchstaben gleich wieder etwas Halt. Das ist gewollt. Denn das Zuhause, in dem wir uns anerkannt und verstanden wissen, ist keine gesicherte Grösse.
Es oszilliert zwischen idealtypischen Bildern und politischer Brisanz. Gefährdung und Verlust von Heimat teilen die Weltbevölkerung in jene, die sie haben, und andere, die sie suchen. Geografisch sowieso, aber auch mental. Was genau die Heimat ausmache, ob sie sich wieder finden lässt, ob eine Klimazone, die Liebe oder eigene Kinder der Zugehörigkeit Grund und Boden geben? Vorbehaltlos, schweizweit, generationenübergreifend sind die Fragen gestellt. Erlebnis, Selbstversuch, Bild- und Tondokumente lotsen den eigenen Heimatbegriff durch einen Parcours: vom ersten Herzschlag bis zur Bundesverfassung, von der Selbstbespiegelung bis in die Weiten des Kosmos.
Im Austausch mit Experten ist das Team dem schweizerischen Selbstverständnis auf den Grund gegangen. Es rückt die juristische Verbindlichkeit der Heimatberechtigung in den Blick, legt sprachliche und familiäre Definitionen aus, fragt nach Heimat als Erinnerung oder Utopie. «Doch das Stapferhaus wäre nicht das Stapferhaus», sagte Sibylle Lichtensteiger an der Pressekonferenz am Freitag, «wenn es bei den Experten geblieben wäre.» An zwölf «Chilbis» begleitete der Lenzburger Forschungstrupp Herrn und Frau Schweizer in die Vogelperspektive und in die heitere bis kritische Nachdenklichkeit.
Dabei sei auch der lustvolle Zugriff wichtig gewesen. Das Volksfest macht gesellschaftliche Grenzen durchlässiger. Darum wars die Gondel des Riesenrads, wo Senioren wie Secondas, Schülerinnen oder Asylsuchende ihre schönsten Heimaterlebnisse, ihre Sehnsucht und Ängste teilten. Veränderung rüttelt am Idyll der sicheren Schweiz. Doch die Freiluftbühne des Riesenrads dokumentiert neben Bedenken auch Zuversicht, Vertrauen, gelingende Integration. Eine «geistige Landkarte» der Heimatgefühle ist das Ergebnis der 1000 Interviewmitschnitte. Und das Porträt einer Nation, die die Pizza vor vierzig Jahren noch als kulinarische Bedrohung aufnahm, während das historische Importprodukt der Geranie selbstverständlich manches «Heimetli» zierte.
Sieben kleine Holzhütten sind ausgestattet mit Requisiten, wie sie zum Selbstverständnis ihrer sieben Bewohnerinnen und Bewohner passen. «Ich bin ein Stück von hier», sagt Ursulina Joos, die nirgends als in ihrem Bergdorf Tenna wohnen möchte. «Es gibt drei Sachen im Leben, die du nicht auswählen kannst», gibt ihr Nachbar, Ali Hassan, zu Protokoll. «Mutter und Vater und dein Heimatland.» Das Schicksal des 28-jährigen Eriträers könnte nicht entfernter sein von der Selbstbestimmung von Marcus Meurer, der in der Hütte vis-à-vis sein Zuhause mit dem Internetzugang gleichsetzt. Der digitale Nomade ist dort wohl, wo er sich gerade einrichtet – «by choice» wohlverstanden und mit dem Komfort, den der geschäftstüchtige Umgang mit digitalen Daten zulässt.
Man nehme sich Zeit. Zwei Stunden mindestens, besser drei. Denn was bei einer wunschlosen Geborgenheit anfängt und die bedrohte Heimat als Geisterbahn im klaustrophoben Aufwärtsgang inszeniert, stellt jeden Besucher, jede Besucherin auch einzeln auf die Probe. Man darf sich verhalten wie am Lenzburger Jugendfest oder an der Olma in St. Gallen. Im Eintrittspreis eingeschlossen sind Jetons aus Plastik.
Damit kann sich, wer will, einer «Psychoanalyse» unterziehen. Berufen Sie sich lieber auf Ihre Wurzeln oder auf Ihre Reiselust? Ziehen Sie es vor, etwas anzufangen oder etwas abzuschliessen? Die Antworten bestimmen, wo man sich wiederfindet als Stern im Firmament zwischen Wandel und Dauer, Nähe und Distanz. In diesem Einbezug liegt – nicht zum ersten Mal – das Besondere an der Stapferhaus-Schau: Sie lässt einen spielerischen Zugang zu und wartet auch mit historischen Fakten und philosophischen Erwägungen auf.
Seine Jetons hat man selbst in der Hand. Man entscheide sich, die Gondel unterwegs mit einer vertrauten oder mit einer unbekannten Person zu teilen. Man stimme ab über Fragen unseres Zusammenlebens. Der letzte Jeton druckt mir am Ausgang einen eigenen Heimatschein aus. Er weicht von meinem Selbstbild ab. Umso mehr bin ich zur Weitsicht verpflichtet auch gegenüber dem Heimatbild der anderen.
Heimat. Eine Grenzerfahrung. Zeughaus Lenzburg, bis 25. März 2018.
In der Begleitpublikation (NZZ Libro, 230 S.) kann man einen dichten Bund an Heimatbegriffen, Gefühlen und Visionen mit nach Hause nehmen.