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Autorin und Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji über den Ausgrenzungsdiskurs in der Schweiz.
Melinda Nadj Abonji: In gewisser Weise ja, denn es ist nicht nur ein Buch über Migration. Und ich habe diesen Begriff im Buch nie verwendet. Es stört mich, dass Migration nur noch als Problemfeld thematisiert wird und nicht als gesellschaftliche Normalität. Gerade deshalb finde ich es sehr schön, dass das Luzerner Theater die Geschichte jetzt so unaufgeregt auf die Bühne bringt.
Auf der politischen oder der medialen Ebene ist nun die Religion, der Islam, in den Brennpunkt gerückt worden. Aber der Diskurs scheint mir ähnlich zu sein wie in den 1970ern über die Italiener und in den 1990ern über die Menschen vom Balkan. Es wird ein Ausgrenzungsdiskurs geführt: wir – die Anderen. Der Unterschied ist, dass das Feindbild Islam nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa und auch in Amerika bewirtschaftet wird.
Um 1900 hat man über Zwangseinbürgerungen nachgedacht, da man befürchtete, die Zugewanderten würden sich sonst nicht integrieren. Gegenwärtig sind die Hürden für eine Einbürgerung enorm hoch; dass man überhaupt darüber abstimmt, ob Menschen der «dritten Generation» unter bestimmten Bedingungen eingebürgert werden sollen, ist für mich ein Hohn. Der Multimillionär Mikhail Khodorkovsky hingegen hatte keinerlei Probleme, innerhalb kürzester Zeit in der Schweiz Aufnahme zu finden.
Der Blick zurück ist notwendig, um die eigene Gegenwart besser zu verstehen. Beim Stöbern in Archiven lernt man, wie Sprache sich verändert. Für den Historiker und Sprachphilosophen Reinhart Koselleck sind Begriffe nicht nur mit Erfahrungen verknüpft, sie eröffnen auch einen Erwartungshorizont. Wer beispielsweise das Wort Demokratie braucht, knüpft an eine bestimmte Tradition an und erwartet gleichzeitig etwas ganz Spezifisches von diesem Begriff. Das kann zu sehr grundsätzlichen Problemen führen.
Heute wird regelrecht um den «richtigen» Demokratiebegriff gekämpft. Ein national definierter Demokratiebegriff ist mit einem Verständnis von Demokratie unvereinbar, das die Menschenrechte über alle nationalen Rechte stellt. In der schweizerischen Verfassung, die als wesentlicher Ausdruck der Demokratie gilt, wird die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz garantiert. Gleichwohl haben wir über eine Gesetzesvorlage abgestimmt, die genau diese Rechte infrage gestellt hat. Die Demokratie scheint doch nicht für alle zu gelten.
In der Literatur geht es darum, zu differenzieren, feinfühliger und genauer zu werden, Wörter zu beleben und wiederzubeleben. Beispielsweise das Wort «flüchtigen», das ich im Grimmschen Wörterbuch entdeckt habe und «in die Flucht schlagen» heisst. Die Wiederbelebung dieses Wortes bedeutet, eine neue Perspektive in der ganzen Flucht-Thematik zu beleuchten.
Wurzeln sind wichtig, wenn sie nicht mit den Begriffen Nation oder Staat verknüpft sind. Jeder Mensch hat einen Schatz, den Schatz seiner Kindheit. Das bedeutet die Verbundenheit mit einzelnen Menschen, mit Stimmen, Gerüchen, mit bestimmten Lichtverhältnissen. Eine kleinräumige, feine Welt, die tief wurzelt und für jeden Menschen etwas anderes bedeutet.
In diesem Satz steckt eine Wahrheit, die ein Kleinkind noch empfindet. Als Erwachsene werden wir anfällig fürs «Grosse», für den «Überblick». Aber was ist denn dieses Gebilde namens Schweiz? Wie verhält sich die Willensnation mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zur Migration? Wie gestaltet sich das Verhältnis der Willensnation zu ihren natürlichen Grenzen (dem Rhein, den Alpen)? Aber wie bereits gesagt: Abstrakte Begriffe, die bewusst schwammig gebraucht werden, taugen für die Politik, nicht für die Kunst. Oder nur dann, wenn deren ideologischer Gehalt entlarvt wird. Gleichwohl bleiben Politik und Kunst immer aufeinander bezogen.