Diese Woche erscheint Donna Leons 25. Brunetti. Zur Silberhochzeit mit dem Commissario ein Gespräch über die ideale Familie, Flüchtlinge und den Wandel der Zeit. Das Montagsinterview.
Sie ist überraschend klein, quirlig und energisch. Donna Leon redet schnell – gemässigtes Amerikanisch. Sie vertritt entschiedene Ansichten. Mal spricht sie sehr laut, mal ganz leise, mal haut sie im Sitzungszimmer ihres Zürcher Verlags auch theatralisch auf den Tisch. Die Autorin kommt gerade von einer Reise mit dicht bepackten Terminen in den USA und Deutschland. Doch die 73-Jährige scheint kein bisschen müde. Erleichtert erzählt sie, wie sie gerade ihren Computer im Apple-Store repariert bekommen hat.
Donna Leon: Es gab einmal einen Film über eine Coca-Cola-Flasche, die in die Kalahari-Wüste fiel und von Pygmäen gefunden wurde. Der Computer überfordert mich genauso wie die Coca-Cola-Flasche den Pygmäen: Ich nutze ihn nur als schnelle Schreibmaschine: Text und E-Mail, das ist alles.
Nein. Aber ich bewundere Leute, deren Gehirn sich an den Prozess des Computers anpassen kann, der nach unerbittlichen Regeln vom einen zum nächsten weitergeht. Mein Denkmuster hingegen ist kreisend. Wenn ich etwas mache und nicht das Resultat erhalte, das ich möchte, ändere ich es. Beim Schreiben findet man einen Weg, damit die falsche Antwort nicht falsch ist. Man macht aus der falschen Antwort die richtige.
Ich kenne viele Leute in Venedig, die wie Brunetti denken. Wohl weil in Venedig die Vergangenheit so glorios schön war und die Gegenwart so monströs hässlich ist. Diese Leute sprechen gerne von den Zeiten, als sie noch in den Kanälen schwimmen konnten.
Ich habe nie lange genug an einem Ort gelebt, um den Vorrat von jahrzehntelanger Erinnerung und diese «nostalgia forte» zu haben.
Ich lebe zwischen den Orten. Im Sommer will ich nicht in Venedig sein, weil es so überfüllt ist. Es ist besser für mich, diesem Stress nicht ausgesetzt zu sein. Daher verbringe ich dann meine Zeit in den Bergen.
Ja, weil ich die Schweiz sehr schön finde. An vielen Orten kann man stundenlang laufen gehen und niemanden sehen, nur Kühe, ich liebe das.
Der Erfolg bringt Freiheiten mit sich: Ich muss kein «Telefonino» haben. Die meisten Leute sagen zu mir: «Du hast solches Glück!» Sie spüren eine Pistole an der Schläfe, die ihnen das «Telefonino» aufzwingt. Ich habe mich anders organisiert: Ich habe E-Mail, ein Telefon zu Hause, einen Telefonbeantworter und Freunde, die mit mir reden. Von Mails bin ich besessen. Das ist auch ein Grund: Ich wäre ein Sklave des «telefoninos».
Darin liegt eine Gefahr. Ich beobachte vor allem bei jungen Leuten, dass Sprache nicht mehr so stark mit der Realität verbunden ist. Einer meiner Studenten sagte einmal, er wolle mir seine Ideologie erklären, warum er ein bestimmtes Wort in einem Satz braucht. Das ist eine Idee, keine Ideologie! Wenn jemand fünf Dollar ausleiht und nur vier Dollar zurückzahlt, ist es auch nicht dasselbe. Sprache ist eine Abmachung unter Leuten.
Manche Wörter entwickeln sich. Aber es ist gefährlich. Niemand würde wagen, dasselbe mit Zahlen zu tun. Weil alle die Abmachung akzeptieren, dass man mit Zahlen nicht spielen kann.
Schauen Sie sich einmal die Nachrichten auf CNN an. Es macht mich wahnsinnig, wenn mir jemand einen Satz sagt und ich ihn nicht verstehe. Die Sprache zu entwickeln, dauerte vierzig-, fünfzigtausend Jahre. Also sollten wir sorgfältig damit sein, wie wir Sprache benutzen. Ich bin nicht die Polizei, ich bin die Sprach-Stasi geworden!
Wenn es in meinem Schreiben Zweideutigkeit gibt, ist sie gewollt. Das ist die hohe Kunst der Sprache. Genial ist Ambiguität nur, wenn sie bewusst ist. Sonst ist sie chaotisch.
Nein. Ich unterrichte manchmal, aber meist Erwachsene. Ich will jetzt nicht meine Bücher loben, aber ich werde nette Dinge über meine Prosa sagen: Es ist klassische, klare englische Prosa, die vor 50 Jahren geschrieben worden sein könnte, aber in 50 Jahren wahrscheinlich nicht mehr geschrieben wird, weil die Sprache sich so rasch ändert.
Mochten Sie das Buch?
Das ist eine Übertreibung, sie wird nicht belästigt ...
Tja, die Sprache!
Meine Antwort scheint ausweichend, aber sie ist es nicht. Ich lese viel über Ökologie und globale Erwärmung. Die wissenschaftliche Gemeinschaft glaubt, dass um 2050 das Wasser einen Meter, vielleicht sogar zwei Meter steigen wird. Das ist in nur 34 Jahren. Dann wird es eine Flüchtlingskrise geben. Und es werden nicht zwei Millionen, sondern zweihundert Millionen kommen! Was jetzt passiert, sehe ich nicht als enormes Problem. Es sind genug Ressourcen da, um die Zahl der Flüchtlinge zu bewältigen. Man müsste es nur korrekt handhaben.
In Italien ist es eines der grössten Geldgeschäfte der Mafia: Man erstellt ein Flüchtlingslager, das bloss als Phantom existiert, und steckt das Geld ein. Oder man lässt Flüchtlinge auf den Feldern Tomaten pflücken für Hungerlöhne. Ich habe auch gelesen, dass die Kirche da mitmischt. Zumindest erhält die Kirche viele Gelegenheiten, sich um die Flüchtlinge zu kümmern, also erhält sie auch viel Geld. Es ist so einfach, über das Flüchtlingsproblem zu sprechen, weil es eine komplizierte Angelegenheit ist.
Saudi-Arabien kann man mit nichts vergleichen. Es ist der schlimmste Ort, an dem ich je war. Meine Erfahrungen in Iran hingegen waren positiv. Ich habe dort vier Jahre lang friedlich gelebt und wurde respektvoll behandelt. Das ist eine Zivilisation, die Persepolis gebaut hat. Es gibt grosse Unterschiede im Islam.
Absolut. Und ich denke, unsere Kurzsichtigkeit macht das Problem komplizierter, als es sein sollte. Weil alle in einen Topf geworfen werden.
Es scheint, als hätte niemand den Mut, das zu sagen. Nicht dass wir Engel wären, aber wenn man als Gast in andere Kulturen geht mit der Absicht, dortzubleiben, warum sollte man sich nicht anpassen? Ich tat das, als ich in den Iran ging, ich tat das bei jedem Land.
(Zögert.) Es sind immer die Männer, denen es gelingt, ihre vermeintlichen Rechte auszudrücken, nicht wahr?
Um ihre absolute Verachtung von Frauen zu zeigen. Aber niemand darf so etwas sagen. Wenn Männer sich gegenüber Frauen schlecht verhalten, verteidigen sie das immer als kulturelle Besonderheit. Kürzlich las ich in einer Zeitung, dass in vielen, ich glaube afrikanischen Ländern, die Leute nie Körperteile benennen. Wenn also eine Frau sagen möchte, dass sie vergewaltigt wurde, kann sie das nicht tun, weil sie über Körperteile reden müsste. Die Gesellschaft ist immer zum Vorteil der Männer aufgestellt.
Weniger.
(Überlegt.) Vielleicht Abendgesellschaften. Ich war in vielen europäischen Ländern eingeladen. In all den Jahren war ich nie an einem Abendessen, an dem eine Frau sich immer wieder und wieder mit ihren Erfolgen, ihrer Arbeit, ihrer wunderbaren Familie, ihrem Hund, ihrem Auto, ihrem Flugzeug aufgespielt hätte (haut bei jedem Wort auf den Tisch). In unserer Kultur ist Konversation ein Austausch. Nur Männer verstossen dagegen – natürlich nicht alle. Aber die, die es tun, haben keine Vorstellung davon, wie lächerlich sie sind. (Schaut zum Fotografen.) So you watch out!
Ja, und das ist sehr schön gesagt. Es geht nur darum, Beobachtungen zu machen. Es ist der Kuss des Todes, wenn ein Autor versucht, zu predigen. Die Leser riechen das, sie haben eine Nase dafür, wenn jemand von Beobachtungen zu Belehrungen übergeht.
Sie sind nah dran. Zum Beispiel diese neuen Zuwanderer, die Brunettis Tochter bedrängen. Sie wirken bedrohlich, weil sie sich noch nicht angepasst haben. Ich habe die Leute in Bars über dieses neue Benehmen sprechen gehört. Es macht sie nervös. Ich habe aber nie jemanden schlecht über die Strassenverkäufer aus dem Senegal reden hören, die schon länger da sind. Die Italiener mögen sie. Sie sind nett und passen sich in die Gesellschaft ein. Die neuen Zuwanderer werden das mit der Zeit auch tun.
Das ist nicht der Grund. Ich will nicht, dass die Leute sich in ihrem Verhalten mir gegenüber ändern. Ich will dort, wo ich viel Zeit verbringe, keine Berühmtheit sein.
Viele Italiener haben meine Bücher in anderen Sprachen gelesen. Nie war jemand beleidigt über etwas, was ich geschrieben hatte. Sie haben nur gesagt, ich bin überrascht, dass du diese Dinge siehst und verstehst. Es ist schön, das zu hören. Auch die überwältigende Liebe, die ich für die Italiener habe, spüren sie in den Büchern. Es ist so: Trotz seiner enormen Probleme ist Venedig ein Paradies auf Erden, weil die Leute so anständig sind.
Wie gesagt, ich predige nicht. Ich mache Beobachtungen. Aber ich sage nicht die Art Dinge über die italienische Gesellschaft, die italienische Autoren sagen. Mein Ton ist bedeutend leichter. Wer richtig beissende Kommentare lesen will, ist bei den italienischen Krimiautoren gut bedient.
Er mochte ihn nicht. Daraus entstand die Idee, über einen ermordeten Dirigenten zu schreiben. Ich habe nie daran gedacht, einen Krimi zu schreiben. Aber dann tat ich es. Und dann kam ein Krimi nach dem anderen.
(Legt den Finger auf ihre Nasenspitze.)
Ich habe so viel gelesen in meinem Leben. Einmal habe ich geschätzt, dass ich mehr als 50'000 Stunden meines Lebens mit Lesen verbracht habe. Daher weiss ich, wann ein Satz gut ist.
Das wachsende Interesse für die Vergangenheit treibt mich an. Brunetti erinnert sich zunehmend an seine Kindheit. Die Erfahrungen, die wir in unserer Jugend machen, formen uns in vieler Hinsicht. Unsere Ideen über Geld, Ethik, sexuelles Verhalten, soziales Verhalten werden geformt, wenn wir Kinder sind und hören, wie unsere Eltern darüber reden, wenn sie sich unbeobachtet wähnen. Brunetti denkt zunehmend an seine Eltern.
Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich schäme mich fast, das zu erzählen, weil das Gegenteil so modisch geworden ist: (jammert pathetisch) Niemand hat mich geschlagen, niemand hat mich missbraucht. Wir sprachen miteinander, wir redeten mit dem Hund, mein Vater las täglich die «New York Times», meine Eltern lasen die ganze Zeit, wir reisten miteinander, wir spielten Tennis, wir hatten Spass. Bis zur High School kam es mir nicht in den Sinn, dass Leute ihren Eltern gegenüber schlechte Gefühle haben könnten. Mein Bruder und ich hatten keinen Grund dazu. Als ich begann, eine Literaturfamilie zu erschaffen, dachte ich an meine Familie. Ich wüsste nicht, wie ich über eine unglückliche Familie schreiben könnte.
Nein, das tut er nicht. Aber der Titel bezieht sich auf das dritte Buch von Gullivers Reise. Dort gibt es die Struldbrugs, die unsterblich sind, aber altern. Und es gibt in der griechischen Mythologie Artemis und Endymion, dem ewige Jugend geschenkt wurde. Der Titel spielt mit unserer Verehrung der Jugend. Jugend im falschen Kontext ist schrecklich. «The waters of eternal youth», (mit diebischer Freude) das ist «wicked» — böse.