Christoph Becker, Direktor des Kunsthauses Zürich, erklärt, warum Museen wachsen müssen, wie er eine Defizit-Falle vermeidet und was das Publikum heute erwartet.
Christoph Becker, seit 18 Jahren Direktor des Kunsthauses Zürich, ist auch Baumanager. Zuerst sanierte er den Altbau, jetzt ragt die Erweiterung als Rohbau in den Zürcher Nebel und umklammert das Kunsthaus mit einer Baustelle. Im Moment eine Belastung, für die Zukunft eine grosse Chance, wie Becker auf dem Dach der Villa Tobler erklärt. Sein Büro liegt in der bel étage der Villa, ist gross, aber karger eingerichtet als man es bei diesem Mann vermutet, der seine schicken Anzüge gerne mit farbigen Akzenten und nichtschwarzen Socken trägt.
Christoph Becker: Die Baustelle ist ein Synonym für die Durststrecke, die das Haus durchläuft. Erst Mitte 2019 wird sich die Baustelle auflösen und den Haupteingang wieder freigeben. Dann hat der Erweiterungsbau eine elegante, einladende Fassade und sieht nicht mehr aus wie ein Ungetüm. Es ist ein Problem, aber das kennt jede Metzgerei, die eine Baustelle vor der Tür hat.
Wir drehen nicht auf Sparflamme. Auch weil wir finden, wir müssen den Besucherinnen und Besuchern gleich viel bieten, auf gleich hohem Niveau – auch wenn es weniger sind.
Erstens steckt hinter den schlicht und edel anmutenden Räumen ein technisches Ungetüm. Wir werden Milliardenwerte für Jahrzehnte, vielleicht für Jahrhunderte darin aufbewahren. Es muss halten, muss sicher sein. Diese komplexe Technik kann man nicht in einigen Wochen hineinbugsieren. Zweitens soll es eine hohe ästhetische Qualität haben. Museen sollen auch zeigen, wie schön Architektur sein kann. Aber bedenken Sie, die Erweiterung hat fast zwanzig Jahre gedauert, nun kommt es auf ein paar Monate nicht mehr drauf an.
Wir hatten ein grossartiges Echo in den Medien, was aber nicht heisst, dass uns die Leute die Bude einrennen. Es bleibt schwierig. Der Jahrhundertsommer hat zudem vielen Kulturinstitutionen zugesetzt – aber das darf keine Ausrede sein. Das gute Wetter wird uns erhalten bleiben und wir müssen schauen, wie wir Leute trotz 30 Grad ins Kunsthaus oder ins Kino bringen.
Wir müssen den Leuten zeigen, dass es angenehm und kühler ist im Kunsthaus. Und der Weg ins Museum muss der Jahreszeit angemessen sein. Stichworte: Schatten, schattiges Café ... Das Museum muss sich stärker aufs Ankommen und Weggehen ausrichten.
Das Ambiente ist heute viel wichtiger als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Museen brauchen heute eine gute und schnell funktionierende Gastronomie, da haben wir noch Nachholbedarf.
Das Kunsthausprogramm ist immer eine wilde Mischung aus leicht und schwierig: Eingängiges und Sperriges und Kunst, die zum Widerstand anregt, sehen wir als unsere Aufgabe. Die Kunstgesellschaft hat es immer so gemacht – und es war ein guter Weg. Unser Profil hat sich geschärft mit Veranstaltungen, die nicht ganz Mainstream waren. (zögert) Aber natürlich machen wir auch Mainstream.
Die Wahl von Christoph Becker im Januar 2000 zum Direktor des Kunsthauses war eine riesige Überraschung. Mit dem damals 39-jährigen Deutschen, der an der Stuttgarter Staatsgalerie als Kurator arbeitete, hatte in Zürich niemand gerechnet. Auch nicht mit seinem Votum, er wolle das Kunsthaus zu einem «Museum von Weltrang» machen. Becker, 1960 in Esslingen bei Stuttgart geboren, studierte in München, Oxford, Paris und Wien Kunstwissenschaften und promovierte über die Vorgeschichte des modernen Museums. Er arbeitete danach als Kunstkritiker und Lektor, textete unter anderem 1992 den Kurzführer zur 9. Documenta, publizierte und referierte über Kunst. 1995 wurde er Kurator in Stuttgart, machte Ausstellungen zu Paul Gauguin und Johann Heinrich Füssli. Auch am Kunsthaus Zürich kuratiert er regelmässig, meist Ausstellungen der klassischen Moderne. Er ist der Promoter hinter der Erweiterung. Der Bau von David Chipperfield kostet 206 Millionen, man sei im Budget wurde bei der Aufrichte des Rohbaus im Juli 2018 kommuniziert.
(lacht) Die Frage musste jetzt kommen! Ja, was ist Mainstream? Ist «Delaunay und Paris» schon Mainstream – oder zeigen wir nicht doch einen Aspekt auf, den man so nicht kannte? Wir würden nicht einfach eine Retrospektive machen, um Leute anzuziehen.
Der Vorstand der Kunstgesellschaft mischt sich traditionell nicht in das operative und das künstlerische Geschäft ein. Er hat eine Aufsichtsfunktion und eine vermittelnde Funktion im politischen Gefüge.
Wir wissen schon selber, wann die Zahlen kritisch werden. Im Ausstellungswesen haben wir eine über 100-jährige Erfahrung. Länger als die meisten Museen in Europa. Wenn wir etwas machen, das wenig Publikum bringt, dann müssen wir es nicht nur wollen, sondern es uns auch leisten können. Ebenso die Kritik oder das Anecken.
Ja. Aber der Vorstand sagt nicht, ihr dürft keine zeitgenössische Kunst zeigen, da kommen zu wenig Leute. Er funktioniert wie ein Sounding Board: Es sind Leute aus der Wirtschaft, der Politik, Sammler. Er wird informiert über das Programm und es kann sein, dass ein Vorschlag kommt. Wenn er die Kuratorinnen und Kuratoren aber nicht interessiert, nehmen wir ihn nicht auf.
Wir gehen bei der Programmierung sehr teamorientiert vor, weil es ein praktischer Umgang mit den Ressourcen ist. Die Kuratorinnen und Kuratoren haben Themen in ihrem Portfolio, die sie gut beherrschen. Da wäre es falsch zu verlangen, mache was, was dich nicht interessiert. Ein Projekt hat einen Vorlauf von ein bis drei Jahren, diese intensive Arbeit muss Spass machen, sonst ist das Resultat nicht lustig und nicht interessant für das Publikum.
Die Erwartung an die Kunst hat sich wenig geändert. Aber das Publikumsverhalten gegenüber der Kunst hat sich stark verändert. Noch vor einer Generation kamen die Besucherinnen und Besucher meist allein. Heute verabredet man sich, geht in einer Gruppe oder zu einer Führung. Das Museum als ein Ort der besinnlichen Einkehr ist nicht mehr so in Mode. Was nicht heisst, dass die Kommunikation zwischen den Betrachtern und dem Kunstwerk sich fundamental geändert hat. Der Reiz des Originals ist ungebrochen.
Im Gegenteil. Die Digitalisierung führt eher dazu, dass die Leute den analogen Zugang neu schätzen lernen. Dass sie neugierig sind, sich unmittelbar mit einem Objekt zu beschäftigen, das nicht durch einen technischen Kanal vermittelt wird. Unsere Aufgabe ist es, diese Sinnlichkeit stärker zu betonen.
Das alte Fotografierverbot, das eigentlich ein bisschen blöd war, ist aus den Museen so gut wie verschwunden. Man hat sich daran gewöhnt – und es ist auch nichts Schlechtes dabei.
Zur Eröffnung wollen wir erst mal zeigen, wie das Haus von David Chipperfield aussieht. Schauen, ob es den Leuten gefällt, ob es funktioniert, ob sich unsere Arbeit, bestimmte Sammler ans Kunsthaus zu binden, gelohnt hat.
Ja, das war wichtig. Wenn sie nicht auf Neugier, Zustimmung, ja Begeisterung gestossen wären, hätte das Konsequenzen gehabt, für die Erweiterung und die Verträge mit den Sammlern.
... und dazu sehr viel von unserer eigenen Sammlung. Wir sind kein Museum für private Sammler, sondern kooperieren mit ihnen, weil ihre Werke für Zürich, für die Schweiz und für unsere Sammlung besonders wertvoll sind.
Sammler sind starke Persönlichkeiten, sonst wären sie nicht Sammler geworden. Solche Persönlichkeiten müssen ein starkes Gegenüber haben, gelegentlich gibt es Krach und es braucht auch klare Worte und eine Linie. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass Sammler ihre Werke der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.
80 Prozent unserer Sammlung bestehen aus Donationen von Privaten. Die Kunstgesellschaft war nie in der Lage, grossen Besitz anzuhäufen, und in Zürich fehlen aristokratische Sammlungen. Viele Menschen waren bereit, dem Verein Kunst zu schenken. Dem Staat oder der Stadt hätte man sie wohl weniger anvertraut.
Braucht es eine grosse Wechselausstellung zur Eröffnung? Sie sind anspruchsvoll, teuer und brauchen Aufmerksamkeit. Ist das neben den Sammlungen, beim grossen Zulauf am Anfang, nicht zu viel? Wir wollen aber mit einer kleinen Ausstellung zeigen, dass hier auch Sonderschauen stattfinden.
Wir haben nächste Woche eine Retraite mit den Kuratorinnen und Kuratoren über die Eröffnung. Danach sollte es klar sein. Eine Idee ist, etwas über die Wechselwirkung von Kunst und Publikum zu machen. Denn wir fragen uns ja, wie kommen wir mit den Menschen in Kontakt, wie nehmen wir ihre Erwartungen auf und wie begeistern wir sie künftig für Kunst, fürs Museum?
... genau! Wir haben verschiedene Formen ausprobiert, um mit unterschiedlichen Gruppen zu interagieren. Dabei haben wir festgestellt, dass die Idee der sogenannten Zielgruppen ein soziologischer Unfug ist. Die Gesellschaft ist in ihren Vorlieben, Abneigungen, ihrem Altersverhalten sehr durchlässig geworden. Das macht das Marketing wie die Programmierung anspruchsvoller.
Wir haben vor 15 Jahren intensiv untersucht, welches Potenzial unser Haus hat, aber auch die Stadt. International spielt unser Institut eine herausragende Rolle: Wir kooperieren mit allen grossen Häusern in Europa und den USA, auch in Asien. Wir sind ein sehr gefragter Partner wegen unserer Zuverlässigkeit, schnellen Entscheiden und unserer Beweglichkeit.
Das ist schwer zu vergleichen. Tate und Louvre sind uns quantitativ um ein Mehrfaches überlegen. Qualitativ können wir durchaus mithalten, sowohl was das Ausstellungsprogramm, die kuratorische Leistung oder die Spitzen unserer Sammlung angeht. Für mich war wichtig, die Sammlung so zu profilieren, dass sie uns Renommee bringt und uns als Leihgeberin attraktiv macht. Wir sind oft schlagkräftiger als Institutionen, die durch ihre schiere Grösse schwerfällig geworden sind. Das wird sich auch mit dem neuen Haus nicht ändern, das Kunsthaus wird kein Moloch à la Louvre oder Metropolitan.
Wir brauchen ungefähr 30 Prozent mehr Geld. Diese zusätzlichen Betriebskosten waren Teil der Volksabstimmung. Die rund 30 Millionen sind auf einer soliden Grundlage kalkuliert.
Die Museen sind aus kleinsten Anfängen entstanden und immer weiter gewachsen. Als man vor 110 Jahren das Museum hier baute, hat eine Eingangshalle von lediglich 150 Quadratmetern genügt. Eigentlich bestimmt das Publikum die Erweiterung: Will es einen stillen Tempel des Guten und des Schönen oder einen Ort des Austausches, der Integration und der gesellschaftlichen Teilhabe? Wir plädieren für die zweite Identität – als Kinder unserer Zeit.
Meine Aufgabe als Direktor ist, etwas zu ermöglichen. Das macht mir am meisten Spass. Wir haben einen Pool von kreativen Ideen und Menschen – aus diesen vielen Ideen eine grosse Idee zu formen und sie Realität werden zu lassen, dafür versuche ich die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Dabei halte ich mich übrigens gerne im Hintergrund – und verschwinde hinter dem Werk.
Die Eröffnung und das Funktionieren der Erweiterung will ich sehen. Dann habe ich gezeigt, dass es geht – und dann gibt es keinen Grund, ewig weiterzumachen. Mir hat es hier immer gut gefallen. Die Möglichkeit, aus dem beschaulichen Kunsthaus eine grosse Institution zu machen, hat mich davon abgehalten, Zürich zu verlassen. Ich glaube, in Europa ist es der beste Job.