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Das nun auf Deutsch erschienene Buch «Das Haus aus Stein» ist ein Metaphernschauer über Entmenschlichung durch Gefängnis und Folter. Geschrieben hat es die türkische Autorin Asli Erdogan, sieben Jahre bevor sie selbst inhaftiert wurde.
Nacht. Dieses Wort kommt 73-mal vor in «Das Haus aus Stein». Dunkel: 29, Schatten: 21. 39-mal das Wort Wunde, 22-mal der Schmerz, 34-mal Blut. Schrei: 57 – allerdings auch als Teil von schreien. Schweigen: 29. Als Kontrast zur Finsternis finden sich dazu hellere Wörter wie Flügel (26), Traum (16), Stern (47) oder Licht (39) – wenn auch manchmal in «lichtlos». Man könnte noch lange so weitersuchen und würde reiche Funde machen mit Nomen wie Seele, Narbe, Maske, Hölle und Himmel. Und das alles in einem Text von nur gut 100 Seiten.
«Roman» steht auf dem Cover. Prosagedicht wäre präziser. Asli Erdogans «Das Haus aus Stein» ist schwarze, zähe Lyrik. Pathetisch und sprachgewaltig. Ein Metaphernschauer. Augen sind «ausgestochen», gleichen «geleerten Aschenbechern». An Körpern hängt «der Geist der Zeit» herab, «zerfleddert». «Die Milchstrasse zeichnet das Gesicht des Todes an den Himmel».
Wörter in einem literarischen Text zählen, man tut es normalerweise nicht. Doch in diesem Fall gibt die Wortklauberei doch einen Eindruck von Erdogans Sprache. Die Zählerei sagt dazu etwas aus über die Schwierigkeit, sich diesem Text anzunähern – so wie dieser Text selbst von genau dieser Schwierigkeit handelt.
Die türkische Autorin will das eigentlich Unsagbare beschreiben, wobei sie diesen Ringkampf mit der Sprache stets mit thematisiert. Der Realität ist mit Worten nie beizukommen, und doch sind Worte das Einzige, was sie als Schriftstellerin all dem entgegenzusetzen weiss, was sie schon zu oft gesehen hat: Gefängnis, Folter, Krieg, Entmenschlichung. «Das Haus aus Stein» ist Erdogans anspruchsvollster Text. Ihr schwülstigster auch. Er ist komplett überladen. Doch dieses Zuviel ist Absicht, das Werk soll eine Zumutung sein. Ort und Handlung bleiben vage. Die Protagonisten sind versehrte Gestalten; Schatten der Menschen, die sie einmal waren. Die Autorin selber beschreibt das Werk im Vorwort für die nun neu erschienene deutsche Ausgabe am besten: «Es ist ein Text ohne Anfang, ohne Ende und ohne Mittelpunkt, dazu verurteilt, unvollendet zu bleiben. Er zieht Kreise um das ‹Unerzählbare›, gibt also seine Hilflosigkeit zu.»
Als Journalistin hat Asli Erdogan in zahllosen Artikeln über alles geschrieben, worüber in der Türkei nicht geschrieben werden darf: den Völkermord an den Armeniern, den Krieg gegen die Kurden, die Missstände in türkischen Gefängnissen, die unfairen Gerichtsprozesse, die antidemokratischen bis faschistoiden Machenschaften der Regierung. Schon in den Achtzigerjahren besuchte die heute 52-Jährige erstmals das berüchtigtste Foltergefängnis Istanbuls, dem das «Haus aus Stein» nachempfunden ist. Sogar als sie gesundheitlich stark angeschlagen war, ging sie da hin, wo es gefährlich ist. Mit einer Halskrause stand sie an einer abgesperrten Grenze zu umkämpftem Gebiet. In der kurdischen Stadt Cizre hat sie gesehen, wie ein zehnjähriges Mädchen die Hände hochhält und trotzdem beschossen wird.
All das und noch Grausameres ist nachzulesen in ihrer auf Deutsch erschienenen Essaysammlung «Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch». Asli Erdogan ist ein Mensch, der sich schon immer moralisch verpflichtet fühlte, da hinzuschauen, wo andere lieber wegsehen; aus Pflichtgefühl denen gegenüber, denen Leid geschieht.
Es wundert einen, dass diese Autorin sich wunderte, als sie am 16. August 2016 selbst verhaftet worden ist. Sie sei keine Aktivistin. In der Türkei sitzen mehr politische Gefangene ein als in jedem anderen Land der Welt; geschätzte 80 000 Menschen, darunter etwa 170 Journalistinnen und Journalisten. 132 Tage sass schliesslich auch Erdogan in Untersuchungshaft. Aus gesundheitlichen Gründen wurde sie entlassen, der Prozess gegen sie läuft weiter. Angeklagt der Mitgliedschaft einer Terrororganisation, wie so üblich in Unrechtsregimen. Ihre Essays sind in der Türkei verboten, sämtliche ihrer Bücher sind kürzlich aus allen Bibliotheken des Landes entfernt worden. 2017 ist Asli Erdogan von einer Reise nach Frankfurt nicht mehr in ihre Heimat zurückgekehrt. Sicher fühlt sie sich auch im Exil nicht.
«Das Haus aus Stein» ist im Original 2009 erschienen, sieben Jahre vor ihrer persönlichen Gefängniserfahrung. Nachdem sie am eigenen Leib erfahren musste, worüber sie zuvor geschrieben hatte, arbeitet sie an einem weiteren Gefängnistext. Das ihr eigene Pathos sei erlaubt. Sie schreibt schliesslich unter Einsatz ihres Lebens. Auch so einer ihrer Sätze: «Wer kommt schon mit dem Leben davon, wenn er dem Menschen in die Hände fällt.»
Asli Erdogan Das Haus aus Stein. Penguin, 2019.