Sechs Zürcher Theater erklären Tatenlosigkeit zum Kollektivverbrechen. Ein Abend voller Wahrheit.
Ironie, das ist das Stichwort des Abends: Es ist lächerlich, wie die Stadt am 21. Mai aussieht, das Wetter, die Menschen, alles scheint wunderbar.
Das Schauspielhaus Zürich ist dagegen im Ausnahmezustand. Hunderte von Menschen treten sich in der Eingangshalle auf die Füsse, die Kassierer sagen jedem, der fragt, das Gleiche: «Ausverkauft.» Die grosse Tour, der sechs Stationen umfassende Theatermarathon, der den Zuschauer durch die Theaterszene der Stadt führen wird, ist restlos ausverkauft.
Ironisch auch, wie aktuell das Thema des Abends ist, obwohl die Vorbereitungen schon so lange andauern. Flüchtlinge, immer wieder die Flüchtlinge, heute aufgehängt am Textmonument der Österreicherin Elfriede Jelinek: «Die Schutzbefohlenen», verfasst kontinuierlich seit 2013, ist eine lupenreine Anprangerung der Gesellschaft, nachzulesen im Internet, ebenso wunderbar wie verwundend. Aufführungen des Texts werden von Rechtsextremen gestürmt, Jelinek wurde für ihren Stil schon 2004 mit dem Nobelpreis geehrt.
Es ist auch diese Eigenschaft des Texts, die heute spürbar wird: Die Aggressivität, die das Thema Flüchtlinge auslöst, bei Opfern, Helfern, Gegnern. «Wut ist Pflicht!», rufen die Meerjungfrauen des Jungen Schauspielhauses Zürich («Hoffen auf ein Leben im Irgendwo», Daniel Kuschewski), und ein ganzer Saal voller Menschen schaut drückebergerisch auf die eigenen, sauber polierten Schuhspitzen.
Das ist der zweite Aspekt: Die Übereinkunft der Weltgemeinschaft, dass etwas getan werden muss, und die gleichzeitige Unfähigkeit, tatsächlich etwas zu tun. Und wenn, dann im kleinen Rahmen, nach dem Rezept «Eine gute Tat im Jahr», wie es die Performance «Wir Schutzgebenden» im Fabriktheater der Roten Fabrik erzählt. Regisseur Tobias Brühlmann fragt darin ohne jegliche Subtilität nach der Schuld jedes Einzelnen. Denn ist es nicht so: Allein die Tatsache, dass man einen Abend lang einigen Schauspielern zuhört, die einem die Welt erklären, ist geradezu höhnisch. Geflüchtete legen keine Pausen ein, um ihnen zu einer gelungenen Vorstellung zu gratulieren. Diese Katastrophe ist Realität, Tag für Tag - Nacht für Nacht.
Im Theater im Neumarkt lesen gespenstisch geschminkte Kinder Passagen aus «Die Schutzbefohlenen» in alphabetischer Reihenfolge vor («Die Schutzbefohlenen - In Alphabetical Order», Markus Öhrn): absinken, Angst, Angst, Angst, gnadenlos, zwei von ihnen spielen mit einem Synthesizern und erzeugen ein unerträgliches, akustisches Chaos. Sie alle präsentieren die Katastrophe mit einer Ernsthaftigkeit, wie sie nur Kinder an den Tag legen können, am Ende schicken sie das Publikum mit «Raus!»-Rufen aus dem Saal.
Der ganze Abend ist nach dem Konzept der «Langen Nacht der Museen» aufgebaut: Die Zuschauer bewegen sich mehr oder weniger frei zwischen den einzelnen Stationen. Für jede Gruppe beginnt die Tour im Schauspielhaus und endet in der Roten Fabrik. Jede Performance dauert ungefähr eine halbe Stunde, worauf eine dreiviertelstündige Pause folgt, während derer man zum nächsten Ziel spazieren, etwas essen oder durch die Stadt flanieren kann. Während man von der angekündigten Spieldauer von acht Stunden (17:00 bis 1:00) erst etwas erschlagen ist, sieht man den Wert und die Notwendigkeit der Pausen schnell ein. Die Last des Abends wiegt schwer; Die Eröffnungsperformance im Pfauen, die schon fast an klassisches Theater erinnert, impliziert mit der Mantra-ähnlichen Repetivität von Paukenschlägen und Klavierklängen die Auswegslosigkeit der ganzen Situation. Die Menschen auf der Bühne sind in Anzüge gekleidet, während sie sich über ein scheinbar nicht existentes schlechtes Gewissen auslassen («Unerhörtes aus der Unterwelt», Barbara Frey, in Zusammenarbeit mit dem Opernhaus Zürich).
Ebenfalls mit Sprache beschäftigt sich das Theater Winkelwiese: Das österreichische Kollektiv «Versatorium» wird unter Regisseurin Ivna Žic zu einer Schicksalsgemeinschaft von Lernwilligen, Lebensfähigen und Lebemenschen; und präsentiert ein harmonisches Zusammenleben, wie es das Dreier-Projekt der Gessnerallee zu umgehen versucht. Timo Krstin und Miriam Walther Kohn simulierten in der Halle der Gessnerallee die Situation in einem Flüchtlingscamp: Wer es schaffte, einen der bereits zur Hälfte von Flüchtlingen ausgefüllten Lotto-Scheine zu ergattern und die andere Hälfte auszufüllen, um um das Leben des Flüchtlings zu spielen, wurde in die Safety Zone durchgewinkt; alle andern blieben zurück, während man den glücklichen Gewinnern mit Prosecco zuprostete. Ein Toast auf die Gleichgültigkeit, Gratulation zum Schicksal eines Privilegierten.
Doch auch die lange Nacht der Qual geht vorbei. Irgendwann tritt man aus dem Fabriktheater in die kühle Nacht, es ist Vollmond, Flüchtlinge haben just an diesem Nachmittag ein Gebäude der Roten Fabrik besetzt. Doch als Zuschauer kann man nach Hause gehen, und Zürich wird am nächsten Tag genau so schön sein. Tag für Tag, Nacht für Nacht.