Das Vitra Design Museum macht sich ein neues Bild von seiner Sammlung.
Superman hat keine Zeit zum Ausruhen. In der arktischen Festung der Einsamkeit holt er sich Frostbeulen, und das Mobiliar der Zeitungsredaktion, in dem der Stählerne inkognito arbeitet, ist so langweilig wie er selbst. Kein Wunder, ist Clark Kent ständig auf dem Sprung.
Comics leben nicht nur von einem bestimmten Zeichenstil, der Wahl der Charaktere und Geschichten, sondern auch von ihrer Ausstattung. Architektur, Mode und nicht zuletzt das Mobiliar werden zu Attributen von Figuren, deren Wesensart sich auf einen Blick erfassen lässt. Für das Massenmedium Comic, das der Warenwelt lange Zeit mindestens so nah stand wie der Kunst, ganz selbstverständlich.
Superman auf einem Sofa? Erika Pinner, Kuratorin am Vitra Design Museum, hat für die Ausstellung «Living in a Box» eine passendere Sitzgelegenheit für den Überhelden gesucht – einen No-Name-Designerstuhl, vorne unspektakulär, auf der Rückseite metallisch verspiegelt. Er kommt in keiner Geschichte vor, und doch gibt der Sessel dem Doppelleben von Superman eine anschauliche Form.
«Dass hauptsächlich Durchschnittsmöbel in US-Superhelden-Comics abgebildet sind, hat sicher mit der Fliessbandproduktion der Hefte zu tun, aber auch mit ihrem Fokus auf eine ganz spezifische Handlung», erklärt Pinner, selber Amerikanerin. Wo es immer ums Ganze geht, bleibt wenig Zeit für Details.
Anders im Europa der Nachkriegszeit. Hier bringt die Weltausstellung in Brüssel den sogenannten Atomstil hervor, benannt nach ihrem Wahrzeichen, einem überdimensionalen Kristallmodell. Die Skulptur steht für den Fortschrittsglauben und den Willen zur Erneuerung, den sich die kriegsversehrten Nationen herbeisehnen. Frankobelgische Comic-Künstler wie Franquin oder Jijé tun ihr Möglichstes, um dieser Hoffnung Gestalt zu verleihen.
Ihr dynamischer Zeichenstil knistert förmlich vor Energie, die progressive Haltung der Figuren unterstreichen Statussymbole, die zu Ikonen der Moderne avanciert sind: bionische Einrichtungsgegenstände wie Nierentische, freischwingende Sessel und futuristische Lampen. Das Dekor schwingt zwischen Individualität und Internationalität, den beiden Polen, die unsere Konsumgesellschaft bis in die Gegenwart bestimmen.
Vieles, was in den 1950ern auf Papier erdacht wird, kann erst mit dem Aufkommen von Spritzguss und Fiberglas realisiert werden. Die Obsession der 60er mit runden Formen tritt so aus der Science-Fiction in die Wirklichkeit. Die Popkultur, zu der Comics zählen, übernimmt nicht nur Objekte, sie gibt den Designern auch neue Impulse. «Heute ist dieser Einfluss so gegenwärtig, dass wir ihn kaum mehr wahrnehmen», sagt Pinner.
Die Ausstellung nähert sich dem Zusammengehen von Comic und Design auf zweifache Weise. Einerseits werden gezeichnete Objekte identifiziert und dem Publikum als reale Gegenstände im Ausstellungsraum des Schaudepots präsentiert. Dabei wird auf den grösstmöglichen Wiedererkennungswert gesetzt, etwa wenn die «Tim & Struppi»-Polizisten Schulze und Schultze im Band «Der Blaue Lotos» auf einem Thonet-14-Stuhl Platz nehmen: Seine Form ist so vertraut, dass wir uns nicht einmal fragen, was er in einem chinesischen Spital zu suchen hat. «Das ist auf jeden Fall bedeutsam», sagt die Kuratorin, die Hergés Kulturimperialismus nicht unerwähnt lässt.
«Living in a Box» verfolgt aber auch einen breiteren Ansatz und stellt wie im Fall von Superman assoziative Bezüge her zwischen Einrichtungsgegenständen aus dem Depot und seinem Thema. «Einige Objekte haben eine so starke Persönlichkeit, dass sie selber wie Comic-Figuren wirken», lacht Pinner. Und nicht selten habe die Recherche ergeben, dass sich die jeweiligen Designer tatsächlich auch mit Comics befasst haben. Am offensichtlichsten ist das wohl bei den Designern Pier Giacomo und Achille Castiglioni aus Mailand, die eine ihrer 70er-Jahre-Tischlampen «Snoopy» nannten.
In welchem Interieur würde die Kuratorin selber gerne Platz nehmen? «Ich liebe ‹Valentina›. Wenn sie sich auf einem Eames Lounge Chair drapiert, wird sie selbst Teil des Designs.» Die italienische Modefotografin von Guido Crepax, die oft in erotischen Tagträumen schwelgt, betont den Fetischcharakter von Design: nackte Haut auf Leder. Wer wollte da noch behaupten, dass Comics Kinderkram sind.
Living in a Box Design und Comics, 24. Mai bis 20. Oktober 2019, Vitra Schaudepot, Weil am Rhein.