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Joël Dicker ist zum dritten Mal nicht nach Solothurn eingeladen, mit Sybille Bergs neuem Roman fehlt auch die aufsehenerregendste Dystopie. Wie gut bilden die Literaturtage das Literaturjahr ab? Fragen an die Geschäftsleiterin Reina Gehrig.
Reina Gehrig (36) hat eine gewinnende Ausstrahlung. Es herrscht ein guter Groove im Büro der Solothurner Literaturtage. Gut ist die Stimmung auch im Interview: Reina Gehrig lacht viel, ist aufgeschlossen und pariert die Fragen souverän. Nach dem Gespräch lobt sie die Anregungen.
Reina Gehrig: Ich bin in freudiger Erwartung auf das, was kommt. Mein Team mache ich immer halb verrückt, wenn ich sage, hoffentlich kommen die Leute, hoffentlich haben alle erfahren, dass die Literaturtage stattfinden. Ich fühle mich den eingeladenen Autorinnen und Autoren und den Übersetzern gegenüber sehr verantwortlich.
Als ich anfing, war es eine Ausnahmesituation. Nach den 32 Jahren, in denen Vrony Jaeggi die Literaturtage geführt hatte, gab es ein Übergangsjahr mit unglücklichem Ende und dem Abgang von Bettina Spoerri. Ich kam dann zunächst interimistisch für zwei Jahre und diese Zeit war davon geprägt, professionelle Strukturen aufzubauen. Früher hatten viele Leute Mandate und die Fäden liefen bei Vrony Jaeggy zusammen. Ich habe mich für eine Geschäftsstelle eingesetzt. Heute sind wir ein Team und haben ein Büro. So wie wir jetzt aufgestellt sind, haben wir viel mehr Ressourcen, Inhaltliches zu entwickeln.
Nein. Die Auswahl für die Schweizer Werkschau macht die Programmkommission. Und dann haben wir Programmgruppen für das Jugend- und Kinderprogramm, für Übersetzung und für Spoken Word. Gestaltungsraum haben wir beim Drumherum, beim Rahmenprogramm, bei den Abendveranstaltungen, und bei unserer Haltung. Wir verstehen uns stark als Gastgeber für die eingeladenen Autorinnen und Autoren. Da ist sicher viel passiert.
Die Werkschau gehört fix dazu. Sie ist das Herzstück der Solothurner Literaturtage.
Die 36-Jährige übernahm 2013 die Leitung der Solothurner Literaturtage. Sie ist in Solothurn aufgewachsen und hat zuvor verschiedene Kulturfestivals organisiert, darunter das Berner Theaterfestival «Auawirleben». Reina Gehrig hat Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte studiert. Als Geschäftsleiterin ist sie selbst Teil der Programmkommission der Literaturtage. Über das Lesen sagt sie: Man begegne nicht allen Büchern genau zum richtigen Zeitpunkt im Leben. Wenn man eines finde, das gerade passe, sei das ein Glücksfall und immer prägend.
Alles, was der Literatur Aufmerksamkeit gibt, ist wichtig (lacht)! Die Literaturtage sind ein Publikumsfestival geworden. Im Publikum gibt es Bibliothekarinnen oder Buchhändler, die sich hier informieren, was im vergangenen Jahr passiert ist. Aber auch der Gründungsgedanke, ein Anlass «von Autoren, für Autoren» zu sein, ist immer noch wichtig: Man kommt zusammen und stellt Texte zur Diskussion. Autor sein ist ja ein einsames Geschäft. Und wenn sich die Autorinnen und Autoren treffen und austauschen, kann viel in Bewegung gesetzt werden.
Ich nehme das auch wahr. Auch von Autoren, die nicht eingeladen wurden und uns teilweise emotionale Rückmeldungen geben. Wir müssen uns dieser Verantwortung bewusst sein. Und wir können dem nur entgegentreten, indem wir seriös und umfassend lesen und jedem Text eine Chance geben. Milena Moser zum Beispiel war mit ihren letzten Büchern nicht eingeladen. Wir haben ihren neuen Roman gelesen und fanden, aufgrund des Textes, der jetzt vorliegt, möchten wir sie diesmal einladen. Aber es ist nicht so, dass alle, die nicht eingeladen wurden, nicht zur Schweizer Literatur dazugehören. Den Umkehrschluss kann man nicht machen. Dafür haben wir zu wenig Plätze.
Wir lesen die Bücher immer in der Originalsprache, Joël Dicker also auf Französisch. Bei den Romands haben wir nur wenige Plätze. Diejenigen der Programmkommission, die alle Neuerscheinungen aus der Romandie lesen, entscheiden in erster Linie, wen wir einladen. Aber das heisst nicht, dass Joël Dicker nicht zur Schweizer Literatur dazugehört. Weil das Kontingent der Romandie so eng bemessen ist, ist es einfach schwieriger.
Wir wollen überhaupt nicht das Signal geben, wir fänden, er gehöre mit seinen Büchern nicht dazu. Vielleicht ist er mit dem vierten Buch da.
Sie hat bisher anderes bevorzugt.
Krimis laden wir nicht ein, es sei denn, es wäre ein sehr literarischer Krimi.
Es gibt keine Richtlinien, die definieren, was ein gutes Buch ist. Es ist wie bei jeder Jurierung. Man liest Texte und muss jeden Text für sich beurteilen. Bei manchen Büchern diskutieren wir sehr lange. Welche Bücher nach Solothurn eingeladen werden, hängt davon ab, wie die Diskussionen ausgehen.
Ja, wir zählen dazu Spoken Word, Prosa, Lyrik und Kinder- und Jugendliteratur. Uns ist auch wichtig, Debüts im Programm zu haben. Aber Krimis laden wir zum Beispiel nicht ein, es sei denn, es wäre ein sehr literarischer Krimi. Wenn man sich das Programm anschaut, sieht man, dass ganz unterschiedliche Texte und Textformen dabei sind.
Seine Popularität ist grossartig. Sie verschafft der Literatur Aufmerksamkeit. Aber Popularität ist für uns kein Kriterium. Würden wir die fünf erfolgreichsten Autoren der Romandie einladen, dann hätte es keinen Platz mehr für Entdeckungen. Es wäre nicht mehr im Geist von Solothurn.
Die Programmkommission sah das anders. Zudem gehört Joël Dicker zum Kontingent der Romandie, Franz Hohler gehört zu den deutschsprachigen Autoren. Dort haben wir mehr Plätze und mehr Möglichkeiten. Im letzten Jahr war es besonders schön, ihn hier zu haben. Wir haben ja das 40-Jahr-Jubiläum gefeiert und er ist Gründungsmitglied der Solothurner Literaturtage.
Gerade für dieses Podium fand ich es auch extrem schade, Corinna T. Sievers nicht dabeizuhaben. Andererseits verhandelt das Podium eher technische Fragen. Zum einen geht es darum, wer ausgezeichnet und gelesen wird. Bei anonymen Jurierungen werden mehr Texte von Frauen ausgezeichnet, sind die Texte nicht anonymisiert, mehr Texte von Männern. Aber es geht auch um die Verlage, die Buchhandlungen und die Bibliotheken. In der Literaturbranche arbeiten sehr viele Frauen, aber ganz oft sind die Entscheidungsträger oder die Chefs immer noch die Männer. Doch viele haben genug von den «Literaturmachos». Bei Ingeborg Bachmann hiess es noch: Für Frauenliteratur ist das ganz gut. An dem Punkt stehen wir zum Glück nicht mehr. Aber das Geschlecht spielt immer noch eine Rolle.
Ja, das war unglaublich ...
Die Reaktion, die ein Buch auslöst, ist für uns kein Grund. Wir haben es gelesen und uns gegen eine Einladung entschieden. Aber wir haben ja das Podium, vielleicht wird der Vorfall dort zum Thema.
Unser Publikum ist neugierig und will neue Stimmen kennen lernen.
Uns ist es sehr wichtig, dem literarischen Nachwuchs eine Plattform zu geben.
Wir laden kein Debüt ein, das uns nicht überzeugt. Unser Publikum ist neugierig und will neue Stimmen kennen lernen. Und es ist auch wichtig, dass neue Stimmen und Schreibende mit ihrem Erstlingswerk in die Literaturszene aufgenommen und wahrgenommen werden. Zudem ist uns wichtig, dass sich Jungschreibende in Solothurn vernetzen können.
Das Kollektiv ist relativ frisch gegründet worden. «Rauf» sind junge Autorinnen, die thematisieren wollen, wie und wo Frauen im Literaturbetrieb vertreten sind. Da passiert etwas.
Wir haben ein schönes Programm, und es sind ganz viele da. Ich habe lieber den Fokus: Wer ist da?
Wir haben dieses Jahr «Rauf» im Programm, aber wir verfolgen, was #DieKanon machen. Ich finde das auch spannend und wichtig.
Was ist Relevanz? Fast alle Autorinnen, die «Rauf» gegründet haben, darunter Katja Brunner, Gianna Molinari, Michelle Steinbeck und Tabea Steiner, sind mit ihren Büchern eingeladen worden und deshalb vor Ort. Sie haben darum einen Programmpunkt im Abendprogramm. Es ist immer schwierig, wenn man fragt, wieso ist dieser Autor oder diese Autorin nicht da. Wir haben ein schönes Programm und es sind ganz viele da. Ich habe lieber den Fokus: Wer ist da?
Ich glaube schon, dass wir offen sind. Dieses Jahr haben wir zum Beispiel Andreas Niedermann eingeladen, einen Schweizer Autor, der schon sehr lange in Wien lebt und jetzt einen literarischen Thriller geschrieben hat. Er steht auch eher am Rand der Literaturszene Schweiz, von der man immer redet.
Die Vernetzung in der Literaturszene ist kein Kriterium, wenn wir die Texte lesen.
Wir müssen das trennen können. Die Texte werden von verschiedenen Leuten gelesen. Und wir diskutieren jedes Buch.
Wir wollen Stars wie dieses Jahr Ferdinand von Schirach oder Inger Maria-Mahlke, die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises. Aber uns ist es auch wichtig, interessante Autorinnen und Autoren einzuladen, die noch nicht auf dem grossen Parkett sind. Man soll über die Grenze, auch über Europa hinausschauen.
Das finde ich bei allen (lacht)! Immer auf andere Art. Dalibor Marković ist ein grossartiger Spoken-Word-Künstler und Beat-Boxer. Er hat alle Poetry-Slams in Deutschland gewonnen, zu Recht. Wie virtuos er mit Sprache umgeht, ist herrlich. Oder Zerocalcare, ein Graphic Novelist und Superstar in Italien, der Reportagen macht, die er zeichnet. Wir haben zwei, drei Jahre versucht, ihn nach Solothurn zu holen. Über die europäische Grenze hinaus ist Dima Wannous eine wichtige syrische Stimme. Es ist die Mischung: Wir wollen etabliertere Autorinnen und Autoren haben und Entdeckungen ermöglichen.
Das freut mich sehr! Auch weil es seine einzige Lesung aus seinem Roman «Die Heimkehr» ist. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er das Buch im Herbst ja nicht vorstellen. Es ist einfach total schön, dass er kommen kann!
Thomas Hürlimann hat sich das gewünscht. Wir hätten ganz sicher ganz viele andere Leute gefunden (lacht). Aber es ist bei jeder Lesung so: Wir wollen, dass es den Autorinnen und Autoren wohl ist.
Ich verstehe diese Sicht und finde diese Entwicklung höchst problematisch. Aber in diesem Fall haben wir den Wunsch des Autors höher gewichtet.
Es ist ein grosser Verlust. Sie schränkt die Meinungsvielfalt ein und sie gibt eben genau einzelnen Personen mit einer grösseren Streuweite sehr viel Macht. Das wenige Positive ist die grössere Flächenabdeckung, allerdings wiederum mit dem Nachteil, dass weniger unterschiedliche Bücher rezipiert und viele Autorinnen und Autoren nicht gehört werden. Bei den Blogs gibt es zum Glück jedoch ein wenig Gegensteuer.
Das «Literarische Flanieren» am Abend. Wir versuchen, ganz niederschwellig den Kontakt von Autorinnen und Autoren mit dem Publikum herzustellen und die Autoren untereinander ins Gespräch zu bringen. Dem geben wir in diesem Jahr viel Raum und sind gespannt, wie das herauskommt. Darauf freue ich mich sehr. Aber auf alles andere auch (lacht). Es ist ein so grosses Programm, mit so vielen Veranstaltungen.
Solothurner Literaturtage vom 31. Mai bis 2. Juni. Eröffnung: Donnerstag, 30. Mai, 18 Uhr.