Die Shortlist für den Schweizer Buchpreis steht. In einem Jahrgang mit vielen starken Titeln rückt die Jury neue Namen ins Scheinwerferlicht
«Selten war die Wahl so schwer. Wir hatten mit einem Embarras de Richesse zu kämpfen», lässt sich Jurysprecher Manfred Papst in der Pressemitteilung zitieren, mit der die diesjährigen Nominierten für den Schweizer Buchpreis bekannt gegeben wurden.
Auf die Shortlist schafften es schliesslich Heinz Helle mit «Die Überwindung der Schwerkraft», Gianna Molinari mit «Hier ist noch alles möglich», Peter Stamm mit «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», Vincenzo Todisco mit «Das Eidechsenkind» und Julia von Lucadou mit «Die Hochhausspringerin». Zum Abschluss des Literaturfestivals BuchBasel wird am 11. November aus diesen fünf Titeln das beste Schweizer Buch des Jahres 2018 gekürt.
Doch: Wird es wirklich das beste Buch sein? Manfred Papst, der abgesehen von seiner Jurytätigkeit Literaturredaktor der NZZ am Sonntag ist, hat recht. Das vergangene Jahr war ein starker Jahrgang. Ausserordentlich viele, literarisch herausragende Buchtitel wurden veröffentlicht. Einmal mehr ist man versucht, Schriftsteller Peter Bichsel mit seiner Aussage an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen zu zitieren: «Es ist, als bäume sich die Literatur gegen ihren Tod auf.» Gemeint sind die wegbrechenden Leser- und Verkaufszahlen.
Auffallend waren dabei in erster Linie die bekannten Namen, die sich mit neuen starken Werken zurückgemeldet haben. Darunter etwa Melinda Nadji Abonji, die 2010 zugleich den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewann und nach sieben Jahren mit «Schildkrötensoldat» ein poetisches und gewichtiges Buch vorgelegt hat. Aber auch Arno Camenisch erlangte mit «Der letzte Schnee» einen neuen Höhepunkt seines Schaffens, ebenso legte Adolf Muschg mit «Heimkehr nach Fukushima» ein gutes Buch vor.
Von den etablierten Autoren schaffte es jedoch einzig Peter Stamm auf die Shortlist. In «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» führt er konsequent sein Thema zu neuer inhaltlicher und formaler Vollendung. Der neue Roman greift in gewisser Weise Stamms Debüt «Agnes» auf. Es ist ein Buch, das wie eine vertrackte gläserne Skulptur schimmert.
Peter Stamm ist der einzige Schweizer Autor, der internationale Anerkennung findet, zuletzt mit der Nomination für den im Herbst zu vergebenden alternativen Nobelpreis. Stamm war bereits zweimal für den Schweizer Buchpreis nominiert, mit seinem letzten Roman war er allerdings übergangen worden.
Dass Milena Moser mit ihrem souverän, aber klassisch erzählten Roman «Land der Söhne» mit seinen Stärken in Plot und Psychologie der Charaktere nicht auf die Shortlist kommen würde, war zu erwarten. Ebenso unwahrscheinlich war, dass Alex Capus mit «Königskinder» nominiert werden würde. Die doppelte Liebesgeschichte wird mit höchster Wahrscheinlichkeit ohnehin bis Weihnachten die Schweizer Bestsellerlisten anführen.
Doch auch der bildungsbürgerliche Kraftakt von Thomas Hürlimann, mit dem der Autor in «Heimkehr» von der Odyssee, über Platon, Nietzsche bis hin zu Calderón viel Weltliteratur in seinen Text gepumpt hat, wurde nicht berücksichtigt.
Diese Autoren bekommen schon genug Aufmerksamkeit. Nicht nur in der Schweiz, auch in Deutschland stehen ihre Titel aktuell in den vordersten Verkaufsrängen, Capus und Hürlimann in den Top Ten, Moser aktuell auf Platz vierzehn. Und es ist ja das erklärte Ziel des Schweizer Buchpreises, neben der Auszeichnung von literarischer Qualität auch den Verkauf anzukurbeln. Kurbeln kann man bei diesen Autoren jedoch nicht mehr gross.
So ist in dieser Shortlist eine literaturpolitische Stossrichtung zu erkennen und das ist gut so: Die Jury stärkt die Erneuerung, einen entschlackten, kreativen Zugang, oder auch, in Peter Stamms Fall, die konsequente Weiterentwicklung eines Themas.
Gianna Molinari, die mit ihrem Buch bereits auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, verhandelt in ihrem Roman vielschichtig Räume und Grenzen. Sie schreibt ihrem Text selbst eine räumliche Dimension ein und bricht formale Grenzen durch die Erweiterung mit Zeichnungen, Fotografien und unterschiedlichen Textsorten auf.
Sie hat es mit ihrem Debüt auf die Shortlist geschafft, ebenso wie Julia von Lucadou. Gianna Molinari, Julia von Lucadou und der Wahlschweizer Heinz Helle haben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert, Helle war 2014 bereits mit seinem Debüt für den Preis nominiert. Und Vincenzo Todisco, Autor mit italienischen Wurzeln, wagt in seinem fünften Roman erstmals den Sprachwechsel ins Deutsche.
Die Jury nutzt die Strahlkraft des vor zehn Jahren aus privater Initiative des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes und des Vereins LiteraturBasel ins Leben gerufenen Preises, um neue Namen zu lancieren. Ein kluger Entscheid. Die Aufmerksamkeit von Medien und Publikum ist dem Preis mittlerweile gewiss – daran können auch die Querelen im Nachgang der Jubiläumsfeier im vergangenen Jahr keinen Abstrich tun.
Die nominierten Bücher halten geschickt die Balance zwischen Originalität und erzählerischer Kraft. Sie zeigen, wie unterschiedlich Literatur sein kann – und wie unmöglich eigentlich, sie miteinander zu vergleichen. Wer den Gewinn davonträgt, darauf darf man gespannt sein. Dem Gewinner winken 30 000 Franken, den vier weiteren Nominierten je 3000 Franken. Der grössere Gewinn aber liegt in einer nochmaligen Verkaufssteigerung — und in der nachhaltigen Bekanntmachung der Namen dieser neuen Autorinnen und Autoren.