Bilder aus einer isolierten Welt

Die Psychiatrische Klinik Münsterlingen wird 175 Jahre alt. Statt einer Chronik präsentiert sie Kunst, die Patientinnen und Patienten während ihres Aufenthalts geschaffen haben. Zu sehen derzeit im St. Galler Museum im Lagerhaus.

Martin Preisser
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Blicke in andere Wirklichkeiten: Die Bilder der Münsterlinger Psychiatriepatienten nehmen auch ganz losgelöst von deren Krankheitssituation für sich ein. (Bild: David Suter)

Blicke in andere Wirklichkeiten: Die Bilder der Münsterlinger Psychiatriepatienten nehmen auch ganz losgelöst von deren Krankheitssituation für sich ein. (Bild: David Suter)

ST. GALLEN. Konrad B. verbrachte 51 seiner 76 Lebensjahre in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Ordnungsliebend, detailversessen, aber auch liebevoll verspielt sind seine ornamentalen Zeichnungen. «Ruhiger Patient, froh, wenn er seine Zeichnungen zeichnen darf», heisst es über einen anderen Patienten. Mit einer Ausnahme bleiben alle in der Ausstellung «Auf der Seeseite der Kunst» gezeigten Kunstwerke anonym. So will es das Gesetz. Die Namen auf den Bildern sind verdeckt.

Leider, muss man sagen. Dadurch bleiben die Schöpfer der oft durchaus selbstbewusst angefertigten Kunstwerke im Status anonymer Psychiatriepatienten, die sich einfach bildnerisch ausgedrückt haben. Ihrer manchmal kraftvollen Identität als echte Kunstschaffende werden sie hiermit wieder beraubt. Die im Museum im Lagerhaus gezeigten Arbeiten stammen aus Patientenakten, die die Psychiatrische Klinik dem Staatsarchiv Thurgau übergeben hat und die im Rahmen des Forschungsprojekts «Bewahren besonderer Kulturgüter» des Schweizerischen Nationalfonds aufgearbeitet wurden. Die Bilder der psychisch kranken Menschen ermöglichten den behandelnden Ärzten einen erweiterten Blick auf ihre Patienten.

Über die Krankheit hinaus

Die meisten der rund hundert gezeigten von insgesamt 249 Bildern aus dem Staatsarchiv gehen aber über den Krankheitskontext deutlich hinaus. «Die rein psychopathologische Interpretation der Arbeiten wäre eindeutig eine Sackgasse», unterstreicht Monika Jagfeld, Direktorin des Museums im Lagerhaus, die von der Krankheit unabhängige künstlerische Qualität der Arbeiten. Die Kunstwerke der Münsterlinger Psychiatriepatienten, die bis 1960 reichen, zeigen aber die Bedeutung von Kunst und künstlerischer Betätigung in einem schwierigen, oft isolierten Lebensumfeld.

Nach üblichen Marktkriterien hat diese Kunst keinen «Wert», sehr wohl aber im ideellen Sinne. Und es ist ein verdienstvoller Ansatz der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, ihren 175. Geburtstag 2015 nicht mit der üblichen Verwaltungschronik, sondern mit dieser sorgfältig kuratierten Ausstellung zu feiern.

Zu entdecken gibt es bei dieser Kunst von der «Seeseite», wie das Klinikareal in Münsterlingen noch lange genannt wurde, sehr viel Überraschendes, aber auch Berührendes. Ein Highlight der Ausstellung sind sicher die geheimnisvollen Stadtutopien des Franz Sch., der 35 Jahre in der Klinik lebte. Labyrinthartige, aber auch fast an Konstruktionspläne phantasievoller fernöstlicher Palast- oder Tempelanlagen erinnernde Zeichnungen führen in eine Welt verwunschener Genauigkeit und fiktiv gedachter Räume. Andere Künstler aus der Psychiatrie haben sich mit Ornamentalem, aber auch mit Bildern, die an Kinder- und Märchenszenen erinnern, verewigt. Nicht selten scheint man aus diesen Arbeiten eine Ruhe zu verspüren, die den Kranken das Eintauchen in eigene Bildwelten vielleicht erlaubt hat.

Interessierte Ärzte

Es sind vor allem zwei Psychiater, die starkes Interesse an der künstlerischen Betätigung ihrer Patienten hatten. Einmal Hermann Rorschach, Erfinder des nach ihm benannten Tests. Aus seinem Nachlass ist im Museum ein eigener Raum gestaltet. Dann Roland Kuhn, bis 1980 fast vierzig Jahre Direktor der Klinik und unlängst in den Schlagzeilen wegen umstrittener Medikamentenversuche in seiner Amtszeit. Kuhn war es auch, der seine Patienten mit Literatur versorgte. Künstler Karl H. verarbeitete so die Lektüre von Gotthelfs «Schwarzer Spinne» in beeindruckend düsteren Zeichnungen.

Im Museum im Lagerhaus fallen daneben besonders die Arbeiten von Meta Anderes auf, der einzigen nicht anonymen Künstlerin. Sie inszeniert sich als bunte Frauengestalt und schafft sich durch Kunst ein neues Eigenbild. Und von Hans G. gibt es ein poetisches Blatt mit einem Baum am Seeufer und einer symbolisch wirkenden Barke. Er fühle, dass er «nicht der Wirklichkeit angehöre», schreibt dieser Zeichner und schlägt mit dem Satz die Brücke zur stets anderen, überraschenden Wirklichkeit, die Kunst ermöglichen kann, unabhängig von Gesundheit oder Krankheit ihrer Erschaffer.

Bis 8. März; Di–Fr 14–18, Sa/So 12–17 Uhr; zur Ausstellung erscheint im Januar ein Katalog; Begleitveranstaltungen: www.museumimlagerhaus.ch