Walter Angehrn macht Bilder aus der Spritzkanne

Walter Angehrn zeigt, wie kulturelle Zwischennutzung im Alleingang geht. Im St. Galler Westen bespielt er mit der Schau «Inspiration ist mehr als Einatmen» facettenreich ein ungenutztes Büro.

Dorothee Haarer
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Weiss ist für Walter Angehrn (links) die «Verdichtung aller Farben». (Bild: Thomas Hary)

Weiss ist für Walter Angehrn (links) die «Verdichtung aller Farben». (Bild: Thomas Hary)

Echte Überraschungen sind viel zu selten. Und wie gerne würde man gerade zu Weihnachten zumindest mal eine kleine erleben! Etwas Wohltuendes aus heiterem Himmel. Wenn sich aber Überraschungen partout nicht von selbst einstellen, kann man sich manchmal auf den Weg zu ihnen machen. Aktuell bietet sich ein Ausflug in den St. Galler Westen an. Denn dort, in Winkeln, in einem Bürogebäude im fünften Stock am Ende eines langen Ganges, wartet eine davon.

Die Überraschung kommt in Form einer Ausstellung daher. Sie trägt den Titel «Inspiration ist mehr als Einatmen» und präsentiert sich als dicht bestückte Werkschau aus 16 Jahren Künstlertum. Walter Angehrn, Jahrgang 1950, steckt als Initiant, Kurator und ausstellender Künstler dahinter. Für seine Schau hat er bewusst ein leerstehendes Büro aufgetan, um es mittels künstlerischer Zwischennutzung zweckzuentfremden.

Zurück zu den Wurzeln

Es bedeute ihm viel, sagt Angehrn, dass er gerade in diesem speziellen Gebäude ausstellen könne. Er habe bis zu dem Moment, als er sich ganz der Kunst zuwandte, als Arzt eine Praxis nur zwei Stockwerke weiter unten gehabt. «Auch hatte ich am Anfang meines künstlerischen Weges Mühe damit, dass ich früher Mediziner war. Ich dachte, man nimmt mich als Kunstschaffenden nicht ernst, wenn man weiss, dass ich lange als Arzt tätig war. Heute stehe ich da drüber und kann sagen: Beides gehört zu mir. Der Entscheid, hier auszustellen, ist ein Zeichen dafür.»

Wie sehr Walter Angehrn als Künstler «angekommen» ist, wird beim Blick durch den Raum deutlich. Mit langer Fensterfront und Backsteinwänden könnte er jeder Galerie den Rang ablaufen. Zu sehen gibt es Zeichnungen, Malereien, einige Objekte und Fotografien. Zudem zeigt der 68-Jährige zwei Textarbeiten. Eine als Holzschnitt, die andere als Neonschrift und überdies Titellieferant zur Ausstellung. Man wird fast atemlos, angesichts all dieser Werke, Formen und Ideen. Gerade, weil Angehrns Arbeiten auch einzeln stark sind. Durch die Dichte der Präsentation stehlen sich manche die Show.

Humoriges Gedankenspiel

Stark zum Beispiel sind grosse monochrome Blätter vom 2018, «Lack-Zeichnungen», wie der Künstler selbst sie nennt. Es sind Werke in gebrochenem Weiss-in-Weiss mit handgeschöpftem Büttenpapier. «Weiss ist für mich die Verdichtung aller Farben», erklärt der Künstler und weiter: «Je älter ich werde, desto mehr sehne ich mich danach.»

Wer nun fürchtet, so viel Verdichtung brächte Langeweile, der irrt. Angehrn versteht es, mit lackbefüllter Spritzkanne Zeichnungen aufs Papier zu «giessen» und so repetitive und ausdrucksstarke Linien und Formen zu erschaffen. Für den Betrachter ist das spannend, denn er kann das Auge zwischen den ruhigen Strukturen solcher Bilder wandern lassen.

Weniger Ruhe, dafür eine Prise Selbstironie birgt ein Holzschnitt als Text. «Kunstschaffen ist ein -Traum/Scheiss- Job. Zutreffendes bitte ankreuzen», steht darin. Auch diese Arbeit ist neu. Der Künstler betreibt hier persönliche Standortbestimmung und humoriges Gedankenspiel. Und stösst bei Laien wie Kunstschaffenden eigene Überlegungen an. So wird diese Schau zum lebenden Beweis, dass «Inspiration mehr als Einatmen» ist, und zu einem fülligen Einblick in ein anregendes Gesamtwerk – als überraschendes Kunsterlebnis an unvermutetem Ort.

bis 6. Januar, Mövenstrasse 12 St. Gallen, 5. Stock, walterangehrn.ch