Balancieren mit dem Schmerz

Im Stück «Frida Kahlo – Farben einer Seele» ruft die Tanzkompagnie des Theaters St. Gallen eine Kunstikone zurück ins Leben: Tänzerisch facettenreich und kraftvoll, mit textlastigen Brüchen. Am Samstag war Premiere im Grossen Haus.

Bettina Kugler
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«Eines Tages, Baby, werden wir alt sein und über all die Geschichten nachdenken, die wir hätten erzählen können», übersetzt Tänzerin Emma Skyllbäck vorn an der Rampe den Refrain eines Songs von Asaf Avidan ins Mikrophon; es fehlt gerade noch, dass ihr dazu von hinten eine Gitarre gereicht wird. Wie einen Kommentar aus dem Hier und Jetzt fügt Choreograph Philipp Egli das Lied in die getanzte, von Leben und Werk Frida Kahlos inspirierte Bildergalerie. Die Botschaft: Lebe jetzt. Warte nicht auf bessere Zeiten, fang an, dass du später etwas zu erzählen hast.

Das Leben frei wählen

Ein Text, der wohl dem Lebensgefühl der mexikanischen Malerin entspräche, würde sie heute leben und leiden und eine Lebenskunst daraus machen. Zugleich ist er eine Gebrauchsanleitung für Eglis Stück, das sich die Freiheit nimmt, assoziativ die «Farben einer Seele» zu ergründen, am Herz einer Künstlerin zu horchen, die ihren Mythos selbst in die Hand genommen hat: mit Palette und Pinsel. Vom «Leben im Wartezimmer» ist die Rede in Avidans Song – und vom Wunsch, wählen zu können.

Viel Text, viele Facetten

Einer allerdings ist Frida dabei zuvorgekommen; den ganzen Abend lang wird er Zaida Ballesteros Parejo auf Schritt und Tritt auflauern: David Schwindling als Tod. Höhnisch lachend wärmt er sich auf, lässt in einem ersten Solo die Muskeln spielen – während sich von oben ein Spiegel herabsenkt und die verletzt am Boden liegende Frida zeigt.

Auf Stahlstangen wird sie aufgebahrt; wie eine Kreuzigung mutet die Szene an. Überhaupt spielt das Stück aufreizend oft, aber tänzerisch raffiniert mit dem Leitmotiv der Stange, die sich bei einem Unfall in Becken und Rücken der jungen Frau bohrte: sie ist Wurfspeer und Kampfstock, aber auch Balancierstange in einem Leben zwischen Schmerz und Lustgier. Das Spiel setzt sich fort in Bühne und Licht (Guido Petzold) – mit langen Neonröhren und drehbaren Stahlgerüsten. Frida Kahlo ist in dieser Szenerie keine leidende Figur, sondern vitale Schöpferin, was nicht zuletzt in der Fülle an Kleidern, Trachten und Kostümen von Katharina Beth zum Ausdruck kommt.

Zwischen Lebenslust, Spass und Schmerz bewegt sich auch Eglis Tanzsprache zu einer Collage aus Musik von Chopin und Alfred Schnittke, eingebettet in Sounds von Roderick Vanderstraeten. Schnell, wild, kraftvoll, in intimen Momenten zärtlich brutal wird getanzt – in wechselnden Gruppen und zwei konkurrierenden Paarungen: einmal die fragile Elfe im zudringlichen Griff des Todes, dann wieder wie eine Puppe neben dem hünenhaften «Fettwanst» Diego. Robert Przybyl verkörpert ihn mit unerschütterlicher Präsenz.

Um uns jedoch nicht zu tief hineinzuziehen in eine vielleicht schon zu oft erzählte Frida-Legende, funken sich die Tänzer regelmässig mit Texteinwürfen dazwischen – über den Surrealismus, die Frage, ob Schicksal niederschmetternd sein muss oder ob Fridas Kunst «eine farbige Schleife um eine Bombe» ist (André Breton). Es fängt schon so an: mit der Frida-Besichtigung einer kunstsinnigen Zeitgenossin (Jasmin Hauck), während sich Sebastian Gibas über den Boden wälzt und rollt, als wolle er einen Ganzkörpergips loswerden. Ironie und Verfremdung bleiben rund neunzig Minuten lang das wirksame Mittel gegen zu viel Pathos – allerdings auch ein ziemlich einfaches.

Grüsse von Mummenschanz

Fast nie wird man Frida selbst ihr Gebrechen und physisches Leiden ansehen. Die beeindruckend geschmeidige Zaida Ballesteros Parejo lässt sich nicht darauf festnageln; sie sublimiert den Schmerz zu einer intelligenten Innenschau. Stattdessen überträgt sich die Versehrtheit auf die übrigen Tänzer, vervielfältigt sich in gleich drei blutigen Rückenansichten, in mit Klebeband gefesselten Körpern. Aus diesen Bildern wird Frida am Ende einfach verschwinden. Mit einer Wendung, die von Mummenschanz stammen könnte.