Bachs Ruf zur Mahnwache

Die Trogner Bachstiftung hat in ihrem Gesamtzyklus aller Bach-Kantaten das 70. Werk zur Aufführung gebracht. Die Kantate «Wachet! betet! betet! wachet!» bietet viele Perlen – und dient dem Ägyptologen Jan Assmann als Bogen der Reflexion.

Charles Uzor
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Manchmal verblüfft, wie barocke Werke scheinbar skrupellos «recycliert» werden. Bachs Aneignung zeitgenössischer sowie eigener Musik zeichnet sich jedoch durch grossen Spürsinn und Sorgfalt aus. So stellte er die Adventskantate «Wachet! betet! betet! wachet!» mit grosser Stimmigkeit in einen erweiterten Kontext. Einerseits bezieht er sich auf die kommende Erlösung im Lukasevangelium, andererseits auf die Apokalypse nach Matthäus. Die Adventsmusik schrieb Bach in seiner Weimarer Zeit. In Leipzig aber galt zwischen Advent und Weihnachten die stille, musiklose Andacht, weshalb Bach die Kantate zeitlich vorverschob.

Alt und Neu, gut verbunden

In seiner Interpretation verbindet Rudolf Lutz die Arien sehr natürlich mit den neueren Rezitativen. Der krasse Wechsel zwischen Verzweiflung und Hoffnung wird betont und vermittelt ein Gefühl formaler Einheit. Bereits im ersten Bass-Rezitativ zeigt Wolf Matthias Friedrich die barocken Bilder des «ewigen Herzeleide» und «Anfangs wahrer Freude» als stimmige Erzählungen und führt die Rezitativteile, das trocken begleitete und das orchestral füllige, sprechend ineinander. Die selige Ruhe der Bassarie erinnert an «Schlummert ein» von BWV 82.

Das Moll-Pendant im ersten Teil gelingt Margot Oitzinger perfekt. Nur schade, dass die etwas unterkühlte Intonation der Bassgambe das Zusammenspiel etwas verwischt. Glockenrein und sehr expressiv singt der Tenor Daniel Johannsen beide Rezitative sowie die Arie «Hebt euer Haupt empor». Entgegen dem Trogener Brauch, die relativ kurzen Kantaten jeweils nach der Text-Reflexion zu wiederholen, schlägt die Reflexion bei dieser Kantate einen Bogen vom ersten zum zweiten Teil.

Die Geschichte des Exodus

Der berühmte Ägyptologe Jan Assmann entwickelt aus dem Schlüsselsatz «Wann kömmt der Tag, an dem wir ziehen aus dem Ägypten dieser Welt» die 3000jährige Geschichte des jüdischen Exodus. Mehr noch als den historischen Befund differenziert Assmann die theologischen Implikationen des jüdischen Sabbats und verknüpft Bachs Kantaten-Umarbeitung mit der Idee der christlichen Zeit-Umkehr.

Diese Kantate hat viele Perlen. Rudolf Lutz' Chor und Orchester der Bach-Stiftung zeigt sie von verschiedenen Ansichten – eine funkelnde Musik, deren feiner Schliff, Oberton-Reichtum und expressive Vielfalt nicht durch Basslastigkeit verdeckt wird. Die Chöre sind artikuliert, schlank und federnd. Die kurzen Töne kommen leicht, die langen mit sprechender Dynamik. In den Chorälen überzeugt der Chor durch Schlichtheit und unpathetische, grosse Innigkeit.