Dirigenten: Das sind vor allem Männer. Doch Frauen holen rasch auf. Eine von ihnen, die mexikanische Dirigentin Alondra de la Parra, arbeitet gerade mit dem Tonhalle-Orchester Zürich.
Als er in den USA studierte, hat Michael Haefliger in Boston mit Sarah Caldwell zum ersten Mal eine Frau am Dirigentenpult gesehen. Weil sie keine Engagements bekam, hatte sie 1957 die Opera Company of Boston gegründet. Stand eine Produktion an, dann arbeitete sie Tag und Nacht, weil wenig Zeit und kaum Geld zur Verfügung stand. Doch trotz immerzu prekärer Umstände konnte Sarah Caldwell nie genug bekommen. Sobald sich bei den Proben das Licht verdunkelte, konnte man ihre schnaubende Stimme hören: «Ho, ho, ho, Zauberzeit!»
Das ist lange her, und die 1924 geborene Sarah Caldwell ist auch schon dreizehn Jahre tot. Michael Haefliger aber, mittlerweile 58 Jahre alt und seit zwei Jahrzehnten Intendant des Lucerne Festival, hat schon früh immer auch Dirigentinnen eingeladen. 2016 hat er am Sommer-Festival eine ganze Reihe von Dirigentinnen ihr Können zeigen lassen. Unter ihnen befinden sich etwa die Kanadierin Barbara Hannigan, die Finnin Susanna Mälkki und die Französin Emmanuelle Haïm. Besonders hervorzuheben: die Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla, die mit nur 29 Jahren Chefdirigentin des City of Birmingham Orchestra wurde – und damit Nachfolgerin von Simon Rattle und Andris Nelsons. Sie kehrt nächstes Jahr als «artiste étoile» zurück nach Luzern, und für einmal bekommt dieser Titel eine Doppelbedeutung. Denn weil am Dirigentenhimmel noch immer so wenige weibliche unter so vielen männlichen Sternen leuchten, kommt ihnen auch eine besondere Bedeutung zu.
Doch warum ist der Dirigentenberuf in einem derart ausgeprägtem Mass Männerdomäne geblieben? Wer hat die Frauen an einer Karriere gehindert? Michael Haefligers Antwort fällt klar und deutlich aus: «Das waren die Orchester. In ihnen herrschte lange die Meinung vor, dass das Dirigieren nicht unbedingt ein Beruf für Frauen ist.» Das hat beispielsweise die heute 82-jährige Bündnerin Sylvia Caduff erfahren, deren erster Förderer, Herbert von Karajan, sie warnte: «Ich kenne die Orchester, ich weiss, wie die reagieren, und halte es deshalb für sehr schwierig, dass sie eine Frau als Chef akzeptieren.» Von ihrem Ehrgeiz abbringen liess sich die junge Frau nicht. 1966 gewann sie den Dimitri-Mitropoulos-Wettbewerb und bekam viele Einladungen zu Gastdirigaten.
Und doch blieb die grosse Karriere aus. «Es gab immer zuerst Vorbehalte, weil ich eine Frau bin», beschreibt sie ihre Erfahrungen in einem Buch, in dem die Dirigentin und Publizistin Elke Mascha Blankenburg 2003 die Lebensgeschichten von Dirigentinnen nachgezeichnet hat. «Man wartete ab und wollte sehen, was ich draufhabe. Es war jedes Mal ein Spiessrutenlaufen.» Die Gegenwart sieht anders aus. «Es bewegt sich gerade sehr viel», sagt Michael Haefliger. «Ich bin überzeugt: In den nächsten zehn Jahren wird sich in diesem Bereich viel tun.» Es ist eine Überzeugung, die Barbara Hannigan teilt. «Jetzt sehen junge Musiker mehr und mehr Frauen auf den Podien. So wie sie auch Politikerinnen wie Angela Merkel sehen. Das setzt sehr viel in Gang.»
Eine dieser Frauen, die gut zum Vorbild taugen, heisst Alondra de la Parra. Mit dreizehn oder vierzehn Jahren hat sie ein erstes Mal daran gedacht, Dirigentin werden zu wollen. «Doch wie sollte ich das werden, wenn ich nicht so aussehe?», erzählt sie. «Dirigenten sind normalerweise Deutsche, sehr alt und haben weisse Haare. Und ich bin Mexikanerin, Kind und weiblich.» Auch wenn niemand etwas sagte: Sie spürte die Vorbehalte. Und setzte sich mit Energie und Können darüber hinweg. Heute ist die mittlerweile 39-Jährige Chefdirigentin des Queensland Symphony Orchestra in Australien und dirigiert Spitzenorchester in aller Welt – an diesem Wochenende etwa das Tonhalle-Orchester Zürich.
Dass dies bereits ihr dritter Auftritt in Zürich ist, zeigt, wie sehr sie dort willkommen ist. Von einer «kollegial positiven» Beziehung spricht die Kontrabassistin Ute Grewel. Und der Oboist und Orchestervorstand Kaspar Zimmermann sagt: «Es kommt eine neue Generation von Frauen, die selbstverständlicher in die Dirigentinnen-Rolle hineinwächst. An uns wird es jedenfalls nicht liegen, wir gehen mit fähigen Frauen ebenso mit wie mit fähigen Männern.» Auch eine Chefdirigentin hätte er sich gut vorstellen können: «Wie wäre es denn mit Simone Young?»
Natürlich stellt sich in Zürich die Frage nicht, gerade eben hat Paavo Järvi als neuer Chefdirigent angefangen. Doch der Siegeszug der Frauen wird kommen, es wird aber wohl ein bestimmter Typ von Frau sein, der sich da aufmacht, die Konzertpodien zu erobern. Denn das in einem sehr patriarchalen Denken fussende, stark hierarchische System, das Ute Grewel beschreibt, ruft nach besonders durchsetzungsfähigen Naturen, die, wie sie sagt, «das Rudel auch anführen wollen». Und wer das tut, muss vor allem eines sein: belastbar.
Gerade hat Paavo Järvi in einem Dokumentarfilm erklärt, dass seine Tage als Chefdirigent gleich mehrerer Orchester vollkommen durchgeplant sind. Muss das so sein? Oder anders gefragt: Könnte es nicht sein, dass, wenn Frauen kommen, die – wie Alondra de la Parra – ihre Kinder nicht nur von weitem sehen wollen, sich das System anpassen und menschenfreundlicher werden muss? Wobei, wie Kaspar Zimmermann betont, eine sehr grosse Aufgabe bleibt: «Jeder Dirigent, jede Dirigentin muss sich in jungen Jahren ein grosses Repertoire erarbeiten. Daran führt kein Weg vorbei.»