Theater
Wo die Bühne zum Tatort wird: Das Kurtheater geht über die schönsten Leichen der Kulturgeschichte

Ob Tarantino, Hitchcock oder die Brüder Grimm mit ihrem Schneewittchen: Die (Pop-)Kultur hat ein morbides Faible für sterbende Schönheiten. Woher kommt dies? Die Theatermacherin Alicia Aumüller begibt sich mit «Dear Jane Doe» auf Spurensuche.

Anna Raymann
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Schauspielerin Alicia Aumüller führt durch die Geschichte sterbender Schönheiten.

Schauspielerin Alicia Aumüller führt durch die Geschichte sterbender Schönheiten.

Bild: Kurtheater

Für Mord und Totschlag muss man nicht den Sonntagskrimi einschalten. Sogar in Kinderbüchern findet sich das Grauen, unangefochten etwa bei den Brüdern Grimm. In einem ihrer populärsten Märchen lassen sie die schöne Königstochter in einen vergifteten Apfel beissen: «Nun lag Schneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch so weiss wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz.» Selbst im Tode zählt zuerst ihre Schönheit.

Ähnlich wie Schneewittchen erging es vielen Frauen in der Film- und Kunstgeschichte. Die Karriere von Schauspielerin und Theatermacherin Alicia Aumüller begann mit der Rolle einer ansehnlichen, aber nichtssagenden Leiche. Nun begibt sie sich unter der Regie von Barbara Weber auf theatrale Spurensuche nach den verstummten Frauen bei Hitchcock, Tarantino oder Künstlern wie Dante Gabriel Rosetti.

Das Publikum betritt den Tatort

Es geht dabei nicht nur um Gewaltexzesse, sondern auch darum, was es mit einem Leben macht, in dem Gewalt immer eine Option ist. Die ersten beiden der insgesamt drei Teile des Stücks ergründen die Zuschauerinnen und Zuschauer auf eigene Faust.

«Während einer Residenz in Italien hatte ich Zeit, mich mit dem zu beschäftigen, was mich bewegt. Viele der Momente im Stück habe ich aus meiner Geschichte, aus meinem Leben geschöpft», erzählt Alicia Aumüller. Dies stellenweise ganz konkret: Im ersten Teil des Abends lässt die Schauspielerin ihr Publikum in ihren wiederkehrenden Alpträumen lesen. Man findet sie in einem Tagebuch in einem verlassenen Zimmer. Das Publikum bewegt sich darin mit Handschuhen wie an einem Tatort. Hier ein achtlos hingeworfener Brautschleier, dort die Pillendose, am Fernsehen läuft die Mordszene aus «Psycho». Die Gewalt schwebt im Raum, die einstige Bewohnerin ist abwesend.

Den Hauptteil bestreitet Alicia Aumüller im selbstbewussten Alleingang. Mit wechselnden Perücken zappt sie zügig, aber eindringlich von Edgar Allan Poe bis Virginia Wolf und öffnet so die Gedankenwelt von Toten, Schweigenden und Zum-Schweigen-Gebrachten.

Wer hat schon Schuld?

Ausgangspunkte für die Recherche waren neben persönlichen Erfahrungen die Texte von Elisabeth Bronfen («Nur über meine Leiche») und Rebecca Solnit («Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde»). Anhand dieser führt Alicia Aumüller durch die Geschichte der schönen Frauenleichen. Welches Kapitel dieser Geschichte hat sie selbst besonders getroffen? «Es sind jeweils einzelne Momente oder Perspektiven. Dass es in Schneewittchen auch um einen absurden Schönheitswahn und das konkrete Drangsalieren von Körpern geht, war mir zum Beispiel lange nicht bewusst.»

Es treffen Macht, Ohnmacht und Ermächtigung aufeinander. Wo das eine zum anderen wird, ist selten eindeutig. Das ist auch die Absicht von Aumüller: «Mir geht es nicht um Opfer- und Täterzuschreibungen, um schwarz und weiss – dafür ist das Thema zu komplex.» Im Stück erzählt sie die Geschichte von Elisabeth Siddal, der in zarter Blässe unsterblich gewordenen Muse von Rosetti. Hat seine Leidenschaft sie krank gemacht, oder hat sie ihre Kränklichkeit für seine Aufmerksamkeit ausgenutzt? Hatte sie letztlich mehr Macht, mehr Kraft in ihrem Verschwinden als gemeinhin angenommen? «Das Thema ist emotional und moralisch aufgeladen», so Aumüller, «ich sehe meine Aufgabe nicht darin, Antworten zu geben, sondern darin, den Finger auf die wunden Punkte zu legen».

Dear Jane Doe

01./02. Juni, 21 Uhr am Kurtheater Baden. 22./23./24. Juni, 21:15 Uhr am Schauspielhaus Zürich.