In drei Abstimmungen hat das türkische Parlament gestern mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit den Weg zur Verurteilung von amtierenden Abgeordneten freigemacht, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft.
ISTANBUL Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sein Ziel erreicht, den grössten Teil der kurdischen oder prokurdischen Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus dem Parlament zu werfen.
Denn obwohl insgesamt 138 Abgeordnete des Parlamentes von dieser Immunitätsaufhebung betroffen sind, geht es tatsächlich vor allem um die Abgeordneten der HDP.
Präsident Erdogan wirft ihnen vor, der verlängerte Arm der «Terrororganisation PKK» zu sein und fordert seit Wochen, diese «Terror-Unterstützer und Verräter» aus dem Parlament zu entfernen. Die Schlüsselrolle kam dabei der sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionspartei CHP zu. Ohne ihre Stimmen wäre keine Zweidrittelmehrheit zustande gekommen, weshalb Präsident Erdogan die CHP öffentlich warnte, ebenfalls der Terror-Unterstützung bezichtigt zu werden, sollte sie gegen die Aufhebung der Immunität stimmen.
Diese Propaganda verstärkte sich, nachdem die CHP in der ersten Lesung der Vorlage am Dienstag tatsächlich gegen die Verfassungsänderung gestimmt hatte. Auch gestern war sich die CHP noch nicht einig, wie sie sich verhalten sollte. Auf Druck der Parteiführung stimmten dann aber rund 20 von 133 CHP-Abgeordnete dafür, was für die Zweidrittelmehrheit reichte.
Sprecher der CHP rechtfertigten ihr Abstimmungsverhalten mit dem Argument, dass es ansonsten zu einer Volksabstimmung über die Aufhebung der Immunität gekommen wäre, was die Spannungen im Lande noch weiter angeheizt hätte. Die Volksabstimmung, sagte ein CHP Abgeordneter resigniert, hätte Erdogan sowieso gewonnen. Schon im Vorfeld der jetzigen Abstimmungen im Parlament hatte es in dem zuständigen Verfassungsausschuss, wo das Gesetz vorbereitet worden war, heftige Auseinandersetzungen zwischen Abgeordneten der AKP und der HDP gegeben. Wütende AKP-Abgeordnete waren mit den Fäusten auf die HDP-Parlamentarier losgegangen, hatten sie geschlagen, getreten und als Terroristen beschimpft. Auch in solchen Vorfällen spiegelt sich die enorme Spannung, die derzeit in der Türkei herrscht. Praktisch jeden Tag sterben im Kampf zwischen PKK und der Armee Soldaten, Polizisten und PKK-Kämpfer – aber auch Zivilisten. Bei Beerdigungen wird die Stimmung weiter angeheizt. Auch gestern verliessen Politiker die Parlamentsdebatte, um in Ankara medienwirksam an einer Beisetzung von Soldaten teilzunehmen. Erdogan hielt parallel zur Parlamentssitzung vor Tausenden Anhängern eine Rede in der Stadt Rize, im Nordosten der Türkei, aus der seine Familie stammt. Er stimmte die Menge darauf ein, dass es noch viele «Märtyrer geben wird bis der Terror besiegt ist».
Sobald das neue Verfassungsgesetz nun in der kommenden Woche in Kraft tritt, hat die Staatsanwaltschaft 15 Tage Zeit, ihre Anklagen gegen die 138 Parlamentarier den zuständigen Gerichten vorzulegen, die dann darüber entscheiden müssen, ob sie ein Verfahren zulassen.
Von der 59 Parlamentariern der HDP droht jetzt 50 Abgeordneten eine Anklage. Mit der Aufhebung der Immunität erlischt auch der Schutz vor einer Verhaftung. Zwar bleiben alle Abgeordneten so lange Parlamentarier bis ein endgültiges Urteil vorliegt, sie können aber bereits zuvor in Untersuchungshaft genommen werden.
Das wird insbesondere auf die führenden Köpfe der HDP-Fraktion zukommen. Gegen den Co-Parteichef und Fraktionsführer Selahattin Demirtas und die Co-Sprecherin der Partei, Figen Yüksekdag, laufen allein mehr als 30 Verfahren, allesamt wegen Terror-Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Sie werden als erste im Gefängnis verschwinden. Aber auch die anderen 48 HDP-Abgeordneten werden sicher ein Verfahren bekommen, ob alle in U-Haft genommen werden, wird sich in den kommenden Tagen zeigen.
Der Rauswurf der kurdischen Abgeordneten erinnert an eine ähnlichen Situation 1993. Damals waren vier Monate zuvor, erstmals in der Geschichte der Türkei, vier kurdische Abgeordnete, darunter Leyla Zana, Träger des Menschenrechtspreises des Europäischen Parlaments, ins türkische Parlament gewählt worden. Genau wie heute wurde ihnen vorgeworfen, die PKK zu unterstützen oder selbst Mitglieder der PKK zu sein. Bei allen vier wurde die Immunität aufgehoben, alle vier wurden verhaftet und verschwanden für mehr als zehn Jahre im Gefängnis.
Nicht zuletzt dieses repressive Vorgehen der damals kemalistischen Regierung hatte zur bis dahin schlimmsten Phase im Kampf der PKK-Guerilla gegen den türkischen Staat geführt.