Walter Brehm
«Eine existenzielle saudische Krise», sagt Madawi al-Raschid von der London School of Economics in einem Gespräch mit unserer Zeitung. Die aussenpolitische Bilanz der Saudis sieht seit Jahren mager aus. Die Auseinandersetzung des scheinbaren Zentrums des sunnitischen Islams mit der schiitischen Vormacht Iran scheint nur noch zum Vorteil der Mullahs in Teheran zu verlaufen.
«In Syrien wirken die Ruinen Aleppos als Symbol des saudischen Versagens, Baschar al-Assad zu stürzen», sagt Raschid. Und im Jemen, wo die Saudis seit 2015 eine arabische Militärallianz gegen schiitische Huthi-Rebellen anführen, stehen die Dinge ebenfalls schlecht. Dort sieht sich Riad demselben Vorwurf ausgesetzt wie die syrische Diktatur: einen zynischen Krieg ohne Rücksicht auf die hungernde Bevölkerung zu führen.
Doch die aussenpolitischen Misserfolge sind nicht allein die «existenzielle Gefahr», die Madawi al-Raschid sieht. Es ist die innenpolitische Krise, die man so umschreiben kann: Das saudische Königshaus ist immer weniger in der Lage, seine Untertanen ruhig zu halten, weil ihm das Geld ausgeht. An dieser Knappheit trägt der saudische Staat zumindest eine Mitschuld. Er hat den Ölpreis durch Rekordförderung in den Keller fallen lassen, um andere Ölstaaten unter Druck zu setzen.
Doch der Ölpreis wird in absehbarer Zeit nicht auf einen Stand zurückkehren, der es der Monarchie erlaubte, bei steigenden Ausgaben ein grosszügiges Rentensystem für die Bevölkerung aufrechtzuerhalten. 2011 hatte das Königshaus auf den Arabischen Frühling noch mit einem Geldregen für das Volk reagieren können. Auch der neue König Salam half nach dem Tod seines Vorgängers Abdullah vor zwei Jahren noch einmal mit grosszügigen finanziellen Geschenken nach. Aber seit dem vergangenen Herbst muss das Massenheer der staatlichen Angestellten und Rentner erstmals reale Verluste hinnehmen. Der Staat – auch das ist eine Premie-re – musste sich Geld auf dem internationalen Finanzmarkt leihen. Löhne und Renten wurden eingefroren, Boni und etliche Sozialleistungen gestrichen.
Doch zahlen müssen längst nicht alle. Laut einer Untersuchung der «New York Times» geben saudische Prinzen international weiterhin genauso viel Geld aus wie zuvor. Und der saudische Twitterer Mujtahidd teilte seinen Followers mit, dass die Prinzen-Apanagen bisher um keinen Rial gekürzt worden seien. Die Zahl der Mitglieder des Königshauses wird offiziell mit 5000 angegeben. Schätzungen inoffizieller saudischer Quellen gehen aber von 10000 bis 15000 Prinzen und ebenso vielen Prinzessinnen aus. Insgesamt dürften sich deren Apanagen auf einen fetten Milliardenbetrag belaufen. Auch hier befindet sich König Salman in einem Dilemma: Zahlt er nicht mehr, schwächt er die Einheit seiner Machtbasis. Müssen aber nur die «normalen» Bürger sparen, drohen Unruhen von unten.
Ärger droht dem König aber auch dort, wo sich erster Reformwille bemerkbar macht. Vom Westen kaum bemerkt, hat in Saudi-Arabien eine noch zaghafte Auseinandersetzung mit der eigenen islamischen Tradition begonnen, dem Wahhabismus, der als Wurzel des sunnitischen Extremismus und letztlich des Dschihadismus gilt.
Doch wenn im Westen das Wort «saudischer Dissident» fällt, wird automatisch an einen mutigen Widerständler oder an eine emanzipierte Muslima gedacht. Die saudische Realität aber ist eine andere: Die extrem-islamistische Opposition gegen das mit den «ungläubigen» USA verbündete Königshaus ist mindestens so gross wie die liberale Opposition. Doch Rasched glaubt, dass gerade die wirtschaftlichen Probleme Veränderungen erzwingen werden. Normale saudische Familien könnten darauf angewiesen sein, dass auch die Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen. Saudische Männer würden sich die absurde Bevormundung der Frauen nicht mehr leisten können – etwa einen Chauffeur, weil sie nicht Auto fahren dürfen.
Die Monarchie beginnt nun einem «Zentrumsislam» das Wort zu reden. Es ist eine erste Aufweichung der wahhabitischen Vorstellung, es gäbe nur einen wahren Islam und sonst nichts. Aber zur Entmachtung des Klerus ist es ein langer Weg – umso mehr, als dieser die wichtigste Stütze des Königshauses ist. Als der liberale Prediger Ahmad al-Ghamidi seine unverschleierte Frau in eine Fernsehdebatte mitgenommen hatte, war die Entrüstung gross. Sie nahm zu, als der Prediger erklärte, der Islam habe nichts gegen Schminke. Kopftuch sei keine Pflicht. Die Religionspolizei beschimpfte Ghamidi als «dreckigen Zuhälter». Doch das Publikum war gespalten. Die Hälfte der Reaktionen auf Ghamidi war positiv.