Folgt nach dem Brexit und Donald Trump der dritte Paukenschlag namens Marine Le Pen? Die Kandidatin des Front National macht Stimmung gegen das, was sie als «das Kapital», die «Kaste» oder «die globale Finanz» bezeichnet. Hinter ihrem präsidialen Image zeigt sich damit eine paranoide Ideologie.
Stefan Brändle, Paris
Nun hatte die Banlieue-Gewalt also auch Mitry-Mory erreicht. In der kleinen Gemeinde beim Pariser Flughafen Roissy brannten in einer einzigen Nacht dreizehn Autos. Ein gefundenes Fressen für den lokalen Front National (FN). Ihr Vertreter Adrien Desport twitterte als erster Bilder von den verkohlten Wracks. Und legte Zeugnis von einer persönlichen Attacke gegen sich ab. Verletzt, aber heldenhaft widerstand er der «racaille», dem Abschaum der Vorstädte, wie sich in Frankreich viele ausdrücken. Heute sitzt der einstige FN-Politiker hinter Gittern und darf dort über den Tatbestand der «eingebildeten Aggression» nachsinnen. Adrien Desport hatte das Feuer nämlich selber gelegt, um das angebliche «Gefühl der Unsicherheit», das die Einwohner plage, zu belegen. Parteichefin Marine Le Pen handelte peinlich berührt, aber prompt: Sie suspendierte den 27-Jährigen von seinen Ämtern.
Suspendieren ist derzeit Mode im Front National. Suspendiert wurde zum Beispiel Anne-Sophie Leclere, eine junge Lokalkandidatin aus Rethel in den Ardennen, welche die dunkelhäutige Ex-Justizministerin Christiane Taubira mit einer Äffin gleichgesetzt hatte. Suspendiert wurde auch Logan Dijan, Mitglied des ehemals berüchtigten rechtextremen Studentenverbandes Gud. Der Kraftprotz hatte sich das Emblem einer SS-Division des Zweiten Weltkrieges auf seinen Bizeps tätowieren lassen. Das verbarg er, wenn er sich zusammen mit Le Pens Nichte Marion fotografieren liess.
Der einstige FN-Lokalabgeordnete Jacques Gérard zog sich selber zurück, nachdem er einem maghrebstämmigen Gemeindevertreter bei einer Weltkriegszeremonie gesagt hatte: «Deppen wie dich habe ich während des (Algerien-)Kriegs etliche erledigt.» Ein FN-Mann entschuldigte den Spruch mit dem hohen Alter des 80-Jährigen. Im März schloss Marine Le Pen auch das FN-Mitglied Benoît Loeuillet aus. Er hatte erklärt, es habe im Holocaust «nicht massenhaft Tote» gegeben.
All das passt nicht ins neue Parteibild. Denn im Unterschied zu ihrem offen rassistischen Vater Jean-Marie gibt sich seine Tochter betont republikanisch, um in den Elysée-Palast einzuziehen. 2015 schloss sie den FN-Gründer sogar aus der Partei aus. In ihrer aktuellen Kampagne vermeidet sie jeden Hinweis auf den Front National und sein Flammenlogo, das auf italienische Neofaschisten zurückgeht. Vielmehr stützt sie sich auf ihre eigene Bewegung «Rassemblement Bleu Marine» (RBM), die eine blaue Rose zum Emblem hat. Ihre Geschichtshelden sind nicht Mussolini, Pétain, auch nicht jene französischen Foltergeneräle des Algerienkriegs, denen ihr Vater als Leutnant tatkräftig zur Seite gestanden hatte. Die marineblaue Marine eifert politisch korrekt Jeanne d’Arc nach und will den zweiten Flugzeugträger Frankreichs, den sie im Falle ihres Wahlsieges bauen würde, nach dem früheren Kardinal Richelieu benennen.
So sieht es Vorschlag 121 ihrer 144 «präsidialen Verpflichtungen» vor, die sie im Februar vorgestellt hatte. Erstmals verzichtet sie auf die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe, die Frankreich 1981 abgeschafft hatte.
Marine Le Pen spielt heute das Spiel der Demokratie, während ihr Vater ausserhalb des Systems geblieben und dessen Vertreter nur provoziert hatte, ohne ernsthaft auf einen Wahlsieg hinzuarbeiten. Noch etwas hat sich radikal geändert: Während Papa Jean-Marie in seiner Villa im schicken Pariser Vorort Saint-Cloud wirtschaftsliberale Thesen vertrat, entdeckt die Tochter ihr soziales Herz: Sie will die Vermögenssteuer beibehalten und die Einkommenssteuer für die Armen senken, was sonst nur Linkskandidaten vorsehen. Auch will sie aus dem Nato-Kommando austreten und die Freihandelsgespräche abbrechen.
Ist das noch rechtsextrem? Vergleicht man das Programm der Alternative für Deutschland mit dem des Front National, kann sich Marine Le Pen sehen lassen. Anders als Frauke Petry hält sie den Islam heute für «kompatibel» mit der Republik.
Der AfD-Mann Georg Pazderski nennt den Front National eine «sozialistische Partei». Objektiv würde also das Etikett «national-sozialistisch» zutreffen. Aber das wäre böswillig, und Marine lacht im direkten Gespräch nur darüber. Ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen meint ehrlich entrüstet: «Hören Sie doch endlich auf, uns als Faschisten zu bezeichnen!» Nur weil ihr Bekannter ein dickes SS-Wappen auf dem Arm trägt.
Noch bei den Präsidentschaftswahlen 2012 hatte sich im FN-Wahlprogramm noch rassistisches Gedankengut gefunden, indem es sich unter anderem an die «weissen heterosexuellen Männer» richtete. Auch dieser Faux-pas ist nun eliminiert. Nach der letzten marineblauen Säuberung. Marine ist jetzt «clean». Im Wahlkampf 2017 schimpft sie nicht mehr wie ein Pariser Taxifahrer, sondern präsentiert sich auf Plakaten mit dem beruhigenden Titel «La France apaisée», Frankreich im Frieden. Wüste Worte und böse Sprüche sind nicht mehr nötig – diese Sparte deckt nach wie vor Jean-Marie Le Pen ab. Eine geschickte Aufgabenteilung: Er das Scheusal, sie die Salonfähige. In einer Umfrage bezeichneten sich 82 Prozent der FN-Mitglieder als «rassistisch». Davon sind 43 Prozent «eher rassistisch», 39 Prozent «ein wenig». Vive la nuance. Nein, Marine Le Pen muss nicht länger ausfällig werden: Sie weiss, und die Antisemiten im Land wissen, wer gemeint ist, wenn sie sagt, dass die EU-Kommissare in Brüssel «ihre Befehle bei Goldman Sachs holen». Der Feind ist laut der FN-Kandidatin das «Kapital», die «Kaste», oder die «globale Finanz». Die sei die Antipode des realen Frankreichs mit seinen Arbeitern und rechtschaffenen Bauern.
Das ist rechte Ideologie pur: Schon der Ultranationalist und Antisemit Charles Maurras hatte «das reale Land» für das Vichy-Regime von Marschall Pétain theoretisiert. Jetzt kehrt der Ausdruck zurück: Im März organisierten rechtsnationale Kreise in Paris-Rungis ein Fest des «pays réel». Le Pen wählt diesen Ausdruck sehr bewusst, um ihn in Kontrast zur Finanzkaste zu setzen. Zeugt das nun von einem «Camembert-Faschismus», wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung vor Jahren einmal schrieb? Sie meinte den unguten Geruch einer «französischen Ideologie» mit antiamerikanischen, antisemitischen und antikapitalistischen Ingredienzen. Spuren davon finden sich aber auch heute noch.
Le Pen schafft es gar, vom «Totalitarismus des Geldes» eine Brücke zum «islamischen Totalitarismus» zu schlagen: In einer geradezu paranoiden Logik behauptet sie, die «Finanzelite» hole absichtlich Billig-Immigranten nach Frankreich, um auf die Löhne der wackeren Arbeiter drücken zu können, was zu Islamisierung und Fragmentierung der französischen Nation führe – und letztlich zu ihrem Untergang.
Nach den Terroranschlägen von Toulouse 2012 hatte Marine Le Pen laut gefragt: «Wie viele Mohammed Merahs sind wohl in all den Schiffen und Flugzeugen, die jeden Tag voller Immigranten nach Frankreich kommen?» Dass der Täter Merah in Frankreich geboren war, tat nichts zur Sache. Die gleiche Annahme hatte 1973 schon der rechtsextreme Schriftsteller Jean Raspail in dem Buch «Das Heerlager der Heiligen» getroffen. Der Autor beschreibt darin, wie Frankreich von einer «stinkenden» Welle von Indern überschwemmt werde. Sie würden in ihren Rostkähnen an die Côte d’Azur gespült, verbreiteten sich über das Land und zerstörten die christliche Zivilisation. Le Pen empfiehlt den Roman immer wieder. Auch Steve Bannon, der Berater des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, hatte in seinen Breitbart-Radiosendungen mehrfach auf Raspails Buch verwiesen, um daraus seine These zu ziehen, der Westen erlebe «keine Migration, sondern eine Invasion».
Bannon ist nicht das einzige Verbindungsglied zwischen Trump und Le Pen. Auch der Trump-Anhänger David Duke, bekannt als ehemaliges Mitglied des Ku Klux Klans, war unlängst voll des Lobes für die Französin. Diesen amerikanischen Rassisten kann sie aber leider nicht suspendieren.