Volkes Stimme oder nur Schwatzbude?

Auf dem Papier ist die Loya Jirga ein einzigartiges Forum zur Regelung bedeutender nationaler Angelegenheiten in Afghanistan. Nach Artikel 110 der Landesverfassung ist die Grosse Ratsversammlung «die höchste Manifestation des Willens des afghanischen Volkes».

Walter Brehm
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Auf dem Papier ist die Loya Jirga ein einzigartiges Forum zur Regelung bedeutender nationaler Angelegenheiten in Afghanistan. Nach Artikel 110 der Landesverfassung ist die Grosse Ratsversammlung «die höchste Manifestation des Willens des afghanischen Volkes». Sie wird «zur Beschlussfassung in Fragen der Unabhängigkeit, nationalen Souveränität, territorialen Integrität und der höchsten Interessen des Landes» vom Präsidenten einberufen.

Keine feste Tagesordnung

So weit, so gut. Doch als die Loya Jirga 2011 schon einmal über eine Sicherheitspartnerschaft mit den USA beraten hatte, erwies sich das Gremium als Schwatzbude ohne messbaren Einfluss. Drei Tage lang stritten damals Stammesfürsten, Mullahs, Parlamentarier und Vertreter der Zivilgesellschaft über Wohl und Wehe einer solchen Partnerschaft. Am Ende hatte kaum ein Vorschlag der Versammlung Eingang in die Schlusserklärung gefunden.

Den 2500 Delegierten, die seit gestern über das bilaterale Sicherheitsabkommen mit den USA debattieren, droht ein ähnlicher Ausgang der Loya Jirga. Laut dem «Afghanistan Analysts Network» gibt es keine Tagesordnung für die Debatten, die je nach Anzahl der Beiträge der Delegierten drei bis fünf Tage dauern sollen.

Diffuse Vorstellungen

Etwa 50 Arbeitskreise sollen völlig frei entscheiden, zu welchen Punkten des Abkommens sie Anträge stellen wollen. Viele der Delegierten, von denen die meisten weder lesen noch schreiben können, haben allenfalls diffuse Vorstellungen von dem Abkommen, über das sie beraten sollen.

Doch die Unklarheit ist keineswegs nur mangelnder Kompetenz der Delegierten geschuldet, sie ist vielmehr im Text des Abkommens selber angelegt. Da heisst es etwa: «Die USA müssen Afghanistan im Falle eines Angriffs von aussen beistehen.» Woher ein solcher Angriff kommen soll und in welcher Art die USA Beistand leisten müssten, geht aus dem Dokument nicht hervor.

Abstimmungen nicht vorgesehen

Immerhin hatten am ersten Tag Universitätsprofessoren den Auftrag, den Delegierten die Inhalte des Entwurfs für ein Sicherheitsabkommen mit Washington zu erläutern. Unklar ist aber nicht nur geblieben, wie amerikanische und afghanische Unterhändler dann Vorschläge aus den 50 Arbeitsgruppen in das Vertragsdokument einarbeiten sollen. Unklar blieb vor allem, ob dies überhaupt vorgesehen ist. Entscheidungen oder Abstimmungen des Plenums der Loya Jirga sind jedenfalls nicht vorgesehen. Präsident Karzai geht es vor allem darum, per Akklamation die Rückendeckung für die weitere Präsenz amerikanischer Truppen im Lande zu erhalten. Dafür wird er in den kommenden Tagen alles tun – ein Schelm, wer dabei an handfeste Zuwendungen an wichtige Meinungsführer denkt.

Ein Restrisiko für Karzai

Die meisten Delegierten sind aber sowieso dem Lager des Präsidenten zuzurechnen. Sie wurden von Provinzgouverneuren ausgewählt, die Karzai ins Amt gehievt hat. Doch Loyalität ist in Afghanistan ein flüchtiges Gut. Und dass die Regierung allenfalls gegen einen deutlich manifestierten Willen der Versammlung entscheiden könnte, ist bei der landesweit umstrittenen Macht Karzais kaum denkbar. So bleibt die Loya Jirga für ihn ein Restrisiko. Denn eine Ablehnung des Sicherheitsabkommens stellte auch die US-Finanzhilfen in Frage, ohne die Karzais Regierung nicht überleben kann.