Umstrittene Abweisungen

Eine Million Afghanen ist zur Flucht bereit, Zehntausende sind bereits in Europa. Deutschland will Afghanen konsequenter zurückschaffen. Nach Ansicht eines Experten ist das zynisch.

Christoph Reichmuth
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Innerhalb des Landes auf der Flucht: Flüchtlingslager nahe der afghanischen Stadt Herat. (Bild: epa/Jalil Rezayee)

Innerhalb des Landes auf der Flucht: Flüchtlingslager nahe der afghanischen Stadt Herat. (Bild: epa/Jalil Rezayee)

BERLIN. Afghanistan erlebt derzeit eine gewaltige Auswanderungswelle. Berichten zufolge sitzt im Land eine Million Menschen auf gepackten Koffern, allein in diesem Jahr sind mehr als 140 000 Afghanen nach Europa geflüchtet, ein Grossteil von ihnen nach Deutschland. Diese Flüchtlinge waren auch Thema beim Besuch des afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani bei Kanzlerin Angela Merkel in Berlin. Deutschland plant, das Gros der Flüchtlinge aus Afghanistan, die nicht an Leib und Leben bedroht sind, zurückzuschicken. Nur 43 Prozent der afghanischen Antragssteller erhalten heute in Deutschland tatsächlich Asyl.

Jedoch ist die Sicherheitslage im Land am Hindukusch äusserst fragil, zudem liegt die Wirtschaft am Boden. Die Taliban kontrollieren rund ein Drittel aller Distrikte, die Zahl der getöteten Zivilisten ist nach dem weitgehenden Abzug der internationalen Truppen unvermindert hoch. Zudem verbreitet ein Ableger des «Islamischen Staates» (IS) im Osten des Landes zunehmend Unsicherheit. Die Sicherheitslage ist derart prekär, dass die Nato erst am Dienstag den geplanten Truppenabzug gestoppt hat. Deutschland will sein Engagement gar ausweiten und sich mit 980 statt bisher 850 Soldaten am Einsatz beteiligen.

«Keine falschen Hoffnungen»

Merkel kündigte zudem verstärkte finanzielle Hilfe für das Land an, die Gelder sollen in den Wohnungsbau und in die Kriminalitätsbekämpfung fliessen. Zugleich sagte sie, dass sie für afghanische Schutzsuchende wenig Perspektiven in Deutschland sehe. «Wir dürfen keine falschen Hoffnungen wecken», sagte die Kanzlerin. Deshalb arbeitet Deutschland in Afghanistan an einer Informationskampagne, mit der den Menschen klar- gemacht werden soll, dass sich eine Flucht nach Deutschland nicht lohne. Der Wunsch nach einem besseren Leben sei kein Grund, in Deutschland Asyl zu erhalten. «Deshalb werden wir diese Menschen auch zurückführen müssen», sagte Merkel. Präsident Ghani warb um internationale Hilfe, um sein Land zu stabilisieren. «Es geht um 30 Millionen Menschen. Wir bitten um deutsche Unterstützung für ein stabiles Afghanistan.»

Die Bundesregierung drängt unter anderem auf ein Rücknahmeabkommen für abgelehnte Asylbewerber. Bislang hat sich Afghanistan vielfach quergelegt bei der Wiederaufnahme von Landsleuten. Dazu meinte Ende Oktober Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der die Zahl der afghanischen Flüchtlinge drastisch senken will, Deutschland habe derart viel Entwicklungshilfe geleistet, «da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben».

«Es gibt keine sicheren Zonen»

Nach Ansicht des Afghanistan-Experten Conrad Schetter vom Internationalen Konversionszentrum Bonn hat de Maizière nicht begriffen, dass in Afghanistan weiter Krieg herrsche. «Es gibt keine sicheren Zonen in Afghanistan», sagt er gegenüber unserer Zeitung. Er verweist auf die Taliban, die nicht zuletzt wegen der katastrophalen Wirtschafts- und Sicherheitslage Terrain gutgemacht und bei Teilen der verarmten Bevölkerung neue Anhänger gefunden habe. Darüber hinaus floriere weiter der Drogenhandel, ethno-religiöse Konflikte seien im Gang, kriminelle Banden kämpften um Vorherrschaften, der Staat habe die Kontrolle über weite Teile verloren. Zudem gibt es Berichte von einem IS-Ableger. Laut Schetter ist wenig bekannt über den afghanischen IS. «Viele lokale Kommandanten behaupten, sie seien vom IS, weil schon dies Angst und Schrecken verbreitet. Ob die Islamisten in Afghanistan tatsächlich vom IS in Syrien gesteuert werden, wissen wir nicht. Es kann auch gut sein, dass sich hier unter dem Namen IS ehemalige Taliban-Kämpfer zusammengeschlossen haben, die gegen die Taliban um die Oberhand kämpfen.»

Kein Argument für Abschiebung

Laut Schetter sind Europa und Deutschland in der Pflicht, den afghanischen Flüchtlingen Schutz zu gewähren. «Es gibt unter den Voraussetzungen in Afghanistan kein Argument, das dafür spricht, die Afghanen einfach abzuschieben. Es ist absurd, auf ein Rücknahmeabkommen hinzuarbeiten.» Die westliche Allianz habe mit ihrem Kriegseinsatz den Menschen Sicherheit und Demokratie versprochen. Die Operation ist zu weiten Teilen gescheitert, «die Afghanen sehen eine Flucht nach Europa als einzigen Ausweg».

Um die Fluchtbewegungen wirksam zu bekämpfen, brauche es für Afghanistan eine neue Strategie. Es brauche in erster Linie ein langfristig zugesichertes Engagement der internationalen Gemeinschaft im Wiederaufbau des Landes, um den Menschen wieder eine Perspektive zu geben, so Schetter.