Ukraine-Krieg
Sie bleiben bis zuletzt in der umkämpften Stadt: Video-Reportage unseres Kriegsreporters von der Front

Nicht nur Bachmut ist an der ukrainischen Ostfront fast eingeschlossen, sondern auch die Industriestadt Awdijiwka. Trotzdem harren dort Zivilisten aus. Ein Hilfswerk kümmert sich um sie.

Kurt Pelda, Awdijiwka 2 Kommentare
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Kriegsreporter Kurt Pelda besuchte die Industriestadt Awdijiwka.

Kurt Pelda/Raimond Lüppken

Schon von Weitem sind Schornsteine und Kühltürme zu sehen. Die Strasse führt fast schnurgerade zu den Öfen und Hallen, in denen früher rund 4000 Angestellte aus Kohle Koks und chemische Produkte herstellten. Heute sind die Kamine kalt, die Maschinen stehen still, und nur ein Sicherheitsdienst kümmert sich noch um die riesigen Anlagen.

Die Kokerei befindet sich in der Steppe des Donbass, am Rand der kleinen Stadt Awdijiwka und nur etwa drei Kilometer von den nächsten russischen Stellungen entfernt. Es ist ratsam, mit höchstmöglicher Geschwindigkeit über den löchrigen Asphalt zu brettern.

Die einzige Strasse, die jetzt noch nach Awdijiwka führt, wird immer wieder mit Artillerie beschossen. Auf drei Seiten ist die Stadt inzwischen von russischen Truppen eingeschlossen.

Die Industriestadt Awdijiwka in der Ukraine: Nur im Bunker gibt es Strom für Laptops und Handys.

Die Industriestadt Awdijiwka in der Ukraine: Nur im Bunker gibt es Strom für Laptops und Handys.

Bild: Raimond Lüppken

Putin am Galgen

Kurz vor der Koksfabrik flattern Fahnen im Wind. Sie sind an einem Metallgestell befestigt, das statt eines Ortsschilds am Stadteingang aufgestellt wurde. In grossen kyrillischen Buchstaben steht da geschrieben: «Awdijiwka ist Ukraine». Eine Puppe mit dem Gesicht von Putin baumelt an dem Gestell, der Strick schnürt dem Diktator den Hals zu.

Stadteingang von Awdijiwka mit einer Putin-Puppe am Galgen.

Stadteingang von Awdijiwka mit einer Putin-Puppe am Galgen.

Bild: Raimond Lüppken

Von den ursprünglich 30’000 Einwohnern leben nur noch schätzungsweise 2000 in der Stadt, vor allem alte Leute. Auf den Strassen liegen Trümmer von zerschossenen Häusern und Fragmente von Raketen und Granaten. Strom, fliessendes Wasser oder Gas gibt es nicht mehr.

Unter einer zerbrochenen Fensterscheibe prangt ein blaues Herz auf einer Hauswand. Daneben stehen in kyrillischen Lettern die Wörter «Dusche», «Waschmaschine», «Tee», «Kaffee», «Internet» und «Television». Ein ebenfalls blauer Pfeil zeigt schräg nach unten, zu einer überdachten Treppe, die in einen riesigen Keller führt.

Zivilisten im Bunker des Hilfswerks «Unity of People».

Zivilisten im Bunker des Hilfswerks «Unity of People».

Bild: Raimond Lüppken

Um den verbliebenen Zivilisten das Leben etwas zu erleichtern, hat die ukrainische Hilfsorganisation «Unity of People» hier einen Bunker eingerichtet, der es in sich hat. Ein Generator liefert Strom, damit die Leute ihre Handys aufladen und im Internet surfen können.

In einer Küche wird für die Menschen gekocht, und in einem separaten Raum stehen vier Waschmaschinen und ein Trockner sowie mehrere Duschkabinen. Ausserdem hat es einen kleinen Coiffeursalon und einen ständig laufenden Fernseher, der vor einer Plastikpalme steht. Daneben hängt ein grosses Poster, das die Koksfabrik in besseren Zeiten und mit rauchenden Schloten zeigt.

Der verschollene Sohn

Auf einer Bank bei den Waschmaschinen sitzt Ljubow, eine frühere Trolleybusfahrerin. Sie hat sich gerade eine Dusche gegönnt, während sie wartet, bis ihre Kleider gewaschen werden. Die 64-Jährige wohnt wegen des Artilleriebeschusses im Keller ihres Hauses. Sie macht sich aber vor allem Sorgen um die rund 3000 Bilder, die ihr Sohn gemalt hat und die sie wegen der Feuchtigkeit nicht im Keller, sondern oben im Haus aufbewahren muss.

Die 64-jährige Ljubow erzählt von ihrem verschollenen Sohn.

Die 64-jährige Ljubow erzählt von ihrem verschollenen Sohn.

BIld: Raimond Lüppken

Awdijiwka ist nur rund acht Kilometer von Donetsk entfernt, der Hauptstadt des gleichnamigen Oblast, die schon 2014 von Russland und moskauhörigen Separatisten besetzt wurde. Seit damals ist Ljubows Sohn verschollen.

Einmal wurde der Mutter eine stark verunstaltete Leiche präsentiert. «Ich habe die Leiche einäschern lassen, aber später kamen die Resultate des DNA-Tests, und es stellte sich heraus, dass es gar nicht mein Sohn war», sagt Ljubow. «Also lebt er vielleicht noch, und jetzt warte ich auf ihn.»

Ljubow hofft, ihren Sohn dereinst doch noch in die Arme schliessen zu können. Deshalb gibt sie sich alle Mühe, die vielen Bilder als Gedenken an ihn zu erhalten. Das sei der einzige Grund, warum sie nicht schon längst aus der Stadt geflüchtet sei.

Inzwischen heisst es, dass die Russen einen Teil ihrer Artillerie von Awdijiwka abgezogen hätten, um den Angriff auf Bachmut rund 50 Kilometer weiter nordöstlich voranzubringen. Bachmut war das Hauptziel der russischen Winteroffensive, und es sieht so aus, als ob der Fall der kleinen Stadt nun unmittelbar bevorsteht.

Wie Awdijiwka ist Bachmut auf drei Seiten von Russen umzingelt. Inzwischen haben die Söldner der russischen Wagner-Gruppe etwa 90 Prozent der Stadt erobert. Die Ukrainer halten sich nur noch in wenigen Blocks ganz im Westen der Stadt.

Zerstörungen durch Artilleriebeschuss sind in Awdijiwka allgegenwärtig.

Zerstörungen durch Artilleriebeschuss sind in Awdijiwka allgegenwärtig.

BIld: Raimond Lüppken

Beide Seiten setzen nun ihre Luftwaffen ein, um dem Gegner das Leben schwer zu machen. Erst kürzlich haben die Ukrainer mehrere gelenkte amerikanische Gleitbomben vom Typ JDAM in Bachmut eingesetzt. Damit haben sie Gebäude pulverisiert, in denen sich vorrückende Wagner-Söldner eingenistet hatten.

Offenbar befürchtet Wagner-Chef Prigoschin eine grosse Gegenoffensive, sobald seine Kämpfer die Stadt ganz eingenommen haben. Prigoschin meint, dass die Ukrainer versuchen würden, die gesamte russische Front bei Bachmut mit einer Zangenoperation von hinten aufzurollen. Aber was auch immer die ukrainischen Pläne sind: Es hat viel geregnet, und obwohl die Temperaturen etwas höher geklettert sind, wird es noch eine Weile dauern, bis die Böden trocknen und damit panzergängig werden.

Bei einer Panzereinheit

Was die andauernde Schlammsaison bedeutet, erleben wir etwas weiter nördlich, als wir eine Panzereinheit der ukrainischen Armee nahe der Front besuchen. Die ukrainischen Bestimmungen verbieten es, Namen und genaue Standorte zu verraten. Jedenfalls bleibt unser Geländewagen in den tiefen Spuren der Kampfpanzer ein paar Minuten lang stecken, bevor es uns gelingt, ihn wieder flott zu machen.

Ein Panzersoldat im Bombenkrater auf dem Acker nebenan.

Ein Panzersoldat im Bombenkrater auf dem Acker nebenan.

Bild: Raimond Lüppken

Weil die Russen nicht weit entfernt sind, parken wir in einem Schuppen, der für das Auto aber etwas zu klein ist. Obwohl das Heck noch herausragt, hoffen wir, dass dies als Blickschutz genügt. Die Soldaten zeigen uns ihre mit Tarnnetzen überzogenen Kettenfahrzeuge, alles von den Russen erbeutete Kampfpanzer vom Typ T-80. Dann laden sie uns zum Tee ein. Sie beklagen sich, dass sie nur wenige Granaten für ihre Kanonen hätten.

Sorgen machen ihnen auch die Aktivitäten der russischen Luftwaffe. Vorgestern habe ein Flugzeug eine Bombe auf einen Acker in der Nähe abgeworfen und dort einen riesigen Krater hinterlassen. Da hätten sich die Ukrainer noch über die Zielungenauigkeit des russischen Piloten lustig gemacht. Doch am Vortag kam das Flugzeug zurück, und diesmal traf es ein Haus. Ein Soldat der Panzereinheit bezahlte den Angriff mit seinem Leben.

2 Kommentare
Werner Bänziger

Ach, Herr Schrader, wenn Ihre Vorurteile irgendeiner Wahrheit entsprächen, gäbe ich Ihnen gerne Recht. Der Ukraine-Krieg nützt den USA, haben Sie sagen wollen. Das ist wahr und falsch zugleich. Ich denke, dass auch die USA nicht daran interessiert sind, Milliarden ohne Not in Kriegsgerät zu investieren - wer tut sich sowas an? Aber: Der Krieg geht auf Russland zurück, nicht auf die Amerikaner. Es ist dämlich und peinlich, hier die Verantwortung verwischen zu wollen. Insofern liegen Sie mit Ihrem "cui bono" völlig neben den Schuhen. Ihre Aussage ist nicht schlau, sondern halbschlau.

Ralf Schrader

'Sie bleiben bis zuletzt in der umkämpften Stadt' Nur wozu? Faktenjournalismus ist etwas völlig nutzloses. Ich kann mich zu jedem Thema dieser Welt informieren, ohne auch nur einen Fakt zu kennen, in der Politik reicht die Antwort auf die Frage: Wem nutzt es? Wem nutzt der Ukrainekrieg? Die Antwort ist leicht zu geben und damit entfällt jede weitere Diskussion.