Ukraine hat zehn Jahre verloren

2004 nahm im osteuropäischen Land seinen Anfang, was nach einer Dekade des Stillstands und des Rückschritts nun wieder in Angriff genommen wird: Die politische und gesellschaftliche Erneuerung. Ob das Ziel nun erreicht wird, ist noch unabsehbar.

Urs Bader
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Die Ukraine ist – auf den ersten Blick – wieder auf Feld eins, zurückgeworfen um zehn Jahre. Damals drängte die Orange Revolution Wiktor Janukowitsch aus dem Amt des Präsidenten, das er im Herbst 2004 nur mit Wahlbetrug erlangt hatte. Während Wochen protestierten in Kiew Hunderttausende Menschen friedlich dagegen, angefeuert von Julia Timoschenko, die zur Galionsfigur der Orangen Revolution wurde. Nachdem das Oberste Gericht die Wahl für ungültig erklärt hatte, wurde sie schliesslich am Stephanstag 2004 wiederholt. Der Sieger hiess nun Wiktor Juschtschenko, der zuvor auch schon Regierungschef war. Ende Januar 2005 wurde er als Präsident eingesetzt, das Amt der Regierungschefin übernahm Timoschenko. Die Orange Revolution wurde damit erfolgreich beendet – ein Triumph der rebellierenden Bevölkerung.

Das Land für Jahre gelähmt

Doch dann zerfleischten sich die neuen Führungsfiguren während Jahren gegenseitig, immer besorgt um ihre eigenen Interessen und ihre eigenen Machtansprüche. Auch Timoschenko erwies sich als Teil der korrupten Machtelite. Die Sieger der Revolution konnten das Land nicht voranbringen, im Gegenteil: Es war gelähmt. Dieser Umstand brachte im Februar 2010 wieder Janukowitsch ins Präsidentenamt, der zwischendurch zweimal Ministerpräsident gewesen war. Durchgesetzt hatte er sich gegen Julia Timoschenko. Diese musste nach einem Misstrauensvotum im März auch als Regierungschefin zurücktreten. Vorgeworfen wurde ihr Amtsmissbrauch. Im August 2011 wurde sie in Untersuchungshaft genommen und zwei Monate später in einem als politisch beurteilten Prozess zu sieben Jahren Straflager verurteilt.

Lage ist prekärer denn je

Zehn Jahre sind seit der Orangen Revolution vergangen – für die Ukraine zehn verlorene Jahre. Das Land ist am Rand des Bankrotts, ein Grossteil der Menschen schlägt sich mehr schlecht als recht durch, während sich die politische Elite hemmungslos bereichert. Korruption und Klientelismus grassieren wie eh und je, Oligarchen ziehen mehr oder weniger offen politische Fäden, die Justiz ist zum verlängerten Arm der Politik geworden.

Auch aussenpolitisch erscheint die Lage der Ukraine prekärer denn je, weil im wichtigen und mächtigen Nachbarland Präsident Wladimir Putin sein autokratisches System festigen konnte. Er will unter anderem über sein Projekt einer Eurasischen Union wieder verstärkt Weltpolitik machen. Wichtiges Element dieser Union ist die Ukraine. Russland betrachtet die frühere Sowjetrepublik als seinen Hinterhof. Putin hat das Land schon wiederholt wirtschaftlich drangsaliert – Handelspolitik wird zur Machtpolitik. Noch steht eine klare russische Reaktion auf die neue Lage in der Ukraine aus, die über die Blockierung von Krediten hinausgeht, die Putin nach dem ukrainischen Nein zur Annäherung an die Europäische Union dem Land zugesagt hatte.

Zwischen Russland und der EU

Er hat mit wirtschaftlichen Sanktionen gedroht, als es im November um die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU ging. Wie Russland verfolgt die EU in der Ukraine eigene Interessen. Das über Jahre ausgehandelte Abkommen sollte ein erster greifbarer Erfolg sein im EU-Grossprojekt «Östliche Partnerschaft», das 2008 initiiert wurde. Verhandelt mit der Ukraine wurde freilich schon früher; dem Land wurde jedoch nie eine Mitgliedsperspektive eröffnet. Es ging auf Seiten der EU um verstärkte wirtschaftliche Beziehungen und um europäische Förderprogramme, während die Ukraine ihre Rechts- und Demokratiestandards allmählich jenem in der EU anpassen sollte. Konkrete Hilfszusagen für den Fall von wirtschaftlichen Strafmassnahmen durch Russland wurden der Ukraine nicht gemacht. Auch sonst bot die EU keine Mittel an, mit welchen sich das Land aus dem russischen Würgegriff hätte befreien können.

Brüssel scheint die Wirkung missachtet zu haben, die das Vordringen der EU an die Grenzen Russlands durch die Östliche Partnerschaft haben musste. Da geht es auch um geopolitische und geostrategische Interessenkonflikte. Vor allem auch deshalb hat die USA an dem Partnerschaftsprojekt Gefallen gefunden. Auch deshalb kam es zu jenem verbalen Ausrutscher einer US-Diplomatin gegenüber der EU. Aus amerikanischer Sicht ist die EU während der Proteste in der Ukraine zu lange zu zaudernd aufgetreten.

Diese politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gemengelage ist der Hintergrund der revolutionären Proteste auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, und in den Strassen der Hauptstadt.

Wo sind neue Hoffnungsträger?

Die Ankündigung von Präsident Wiktor Janukowitsch vom 21. November vergangenen Jahres, das Assoziierungsabkommen mit der EU doch nicht zu unterzeichnen, hat das Fass wohl einfach noch zum Überlaufen gebracht. Im Jahr 2004 war es die gefälschte Präsidentschaftswahl, die zur Orangen Revolution geführt hatte. Schon damals zielten die Proteste allerdings unter die Oberfläche der ukrainischen Politik und Gesellschaft. Das tun sie heute noch viel ausgeprägter. Der Unterschied – damals gab es Hoffnungsträger wie Juschtschenko und Timoschenko. Diese müssen, da sich beispielsweise Timoschenko in den Augen vieler Ukrainer selbst diskreditiert hatte, heute erst noch gefunden werden. Dabei darf man annehmen, dass die Protestierenden des Maidan aufmerksam verfolgen werden, ob sich jemand erneut die Revolution zu eigen machen will.