Einzig die Oligarchen im Land haben bisher von der bevorstehenden Fussball-EM profitiert. Der Streit um Julia Timoschenko ist in der Ukraine kein grosses Thema. Unter der Bevölkerung macht sich dennoch Resignation und Zynismus breit. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.
Jungunternehmer Andrej P. hat seinen Audi für das Familienpicknick direkt vor dem EM-Stadion in Charkiw parkiert. Hier ist alles schön und gediegen. Das Stadion des lokalen FC Metallist glänzt in der Mittagssonne, moderne Gitterkonstruktionen schirmen das Gelände ab, etwas abseits haben Ordnungshüter Freiwillige für ein Sicherheitstraining versammelt.
«Die Fussball-EM ist die letzte Chance, um uns an europäische Standards anzunähern», sagt der Jungunternehmer. Als Student hatte er selbst lange Fussball gespielt, doch den Halbprofi zog es danach ins Business. Heute besitzt er ein halbes Dutzend Firmen und träumt von einem «europäischen Geschäftsumfeld», wie er es nennt. «Das heisst, freies Spiel der Konkurrenz und Planungssicherheit», führt Andrej aus. Trotz allen Fehlschlägen sei die Euro deshalb positiv.
Die Metrostation Sportiwnaja schreckt mit ihren schummrigen Gängen ab, auch wenn alle Hinweisschilder neben Russisch nun auch auf Englisch geschrieben sind. Altersschwache Trams rumpeln über neue Geleise auf frisch geteerten Strassen. «Ein Boykott bringt uns Ukrainern rein gar nichts!», sagt Andrej zum Abschied und braust mit Kind und Frau über einen breiten Boulevard durch ein endloses Hochhausquartier davon.
Das Rennen gegen das Spiel der Konkurrenz hat in Charkiw der Oligarch Oleksandr Jaroslawskij gemacht. Der zwölftreichste Mann der Ukraine ist nicht nur Besitzer des in Charkiw verehrten FC Metallist, er soll dessen Stadion auch zu einem guten Teil aus eigener Tasche für die EM fit gemacht haben. Rund 60 Millionen Euro habe ihn das gekostet, schreibt die Lokalpresse. Die ostukrainische Industriestadt Charkiw konnte sich dank dieser Investition in letzter Minute vom Ersatzspielort zum EM-Gastgeber katapultieren.
Seit Wiktor Janukowitsch Anfang 2010 die ersten fairen und freien Präsidentenwahlen in der Ukraine knapp für sich entscheiden konnte, haben wenige Oligarchen ihre Hände wieder auf die gesamte Wirtschaft des Landes gelegt. Janukowitschs Wahlsieg auf den Tritt folgte eine Verfassungsänderung, die die Macht des Präsidenten stärkt. Gekaufte Abgeordnete machten dies und machen weitere Gesetze möglich, mit denen die Errungenschaften der Orangen Revolution von Ende 2004 wieder getilgt werden. Kritische Fernsehstationen verloren die Lizenz, und das Wahlgesetz wurde zugunsten grosser Parteien wie Janukowitschs Partei der Regionen geändert. Bisheriger Höhepunkt sind die hohen Haftstrafen für Ex-Premierin Julia Timoschenko und deren Innenminister Juri Lutsenko, die mit einiger Verzögerung zu deutschen und später europaweiten EM-Boykottdrohungen geführt haben.
«Dabei sollte uns die gemeinsame Ausrichtung der EM mit Polen näher an Europa führen», klagt der Abgeordnete Ostap Senerak in der Hauptstadt Kiew. Wenige Schritte von seinem Parteibüro entfernt fliegen in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, auch mal die Fäuste. «Statt eine ideale Werbefläche für die Ukraine haben wir zur Euro 2012 nun Korruption und politische Gefangene», ärgert sich Senerak, dessen Partei Reform und Ordnung ein Teil des oppositionellen Julia-Timoschenko-Blocks (Bjut) bildet. Sieben Jahre sind es her, da demonstrierte auch er im Schneetreiben tagelang am nahen Majdan für Demokratie und gegen Wahlfälschung. Nach über einem Monat konnte die Orange Revolution den Sieg davontragen, doch die Revolutionäre zerstritten sich bald. Ein Stellungskrieg zwischen Julia Timoschenko und Präsident Wiktor Juschtschenko führte das Land ins politische Chaos. Das Volk wandte sich angewidert ab; die Weltwirtschaftskrise Ende 2008 tat ihr Übriges. Kein Land in Europa wurde so schwer von der Rezession getroffen wie die ohnehin schon bitterarme Ukraine.
«Den Polen hilft wenigstens die EU bei der Fussball-EM», sagt Sergej, ein bärtiger Ingenieur, der sich nach dem Studium mit Schwarzarbeit als Fahrer durchschlägt. Sergej braust über die aufgerauhte Fahrbahn des «Boulevards der Roten Armee». Vor der Euro wurden die Löcher kurzerhand abgeschliffen; für einen neuen Asphaltbelag fehlt die Zeit. «Bei uns verdienen sich ein paar Familien dumm und dämlich dank der Euro», erklärt Sergej, «aber immerhin bekommen wir dafür ein paar Stadien und Strassen, ist doch besser als gar nichts», lacht er bitter.
Paul Flückiger, Charkiw