Analyse zu Brexit-Entscheiden und schottischen Unabhängigkeitsplänen
Eigentlich sollte dem Einstieg in den Ausstieg aus der EU danach nichts mehr im Weg stehen: Beide Kammern des britischen Parlaments stimmten am späten Montagabend dem einschlägigen Gesetz zu. Und zwar ohne Einschränkungen für die Regierung, die für die Verhandlungen nun freie Hand hat. Es fehlt nur noch die formale Zustimmung der Königin. Das Gesetz lautet simpel: «Die Premierministerin darf die Absicht des Vereinigten Königreichs zum Austritt aus der EU, gemäss Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union, bekanntgeben.» Was Premierministerin Theresa May will, ist aber bekannt: den «harten Brexit». Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt und aus der Zollunion, Ende der Personenfreizügigkeit, keine weitere Anerkennung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
Keinen «harten Brexit» möchten jedoch die Schotten, die deutlich für den Verbleib in der EU votiert hatten. Sie wollen im Binnenmarkt bleiben. Deshalb platzte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon am Montag mit einem weiteren Unabhängigkeitsreferendum in die abschliessenden Parlamentsverhandlungen hinein. Sie teilte mit, sie werde vom Regionalparlament in der kommenden Woche die Vollmacht einholen, sich mit der britischen Regierung über die Abhaltung einer neuen Volksabstimmung zu verständigen. Sturgeon will Druck machen, hat aber einen «Kompromiss» mit der britischen Regierung nicht ausgeschlossen. Allerdings seien alle Anträge, Schottland im Binnenmarkt zu belassen, in London auf eine «Mauer der Unnachgiebigkeit gestossen», klagte sie.
Premierministerin May war ob der Intervention aus Schottland nicht «amused». Giftig sprach sie von einem «zutiefst bedauerlichen Tunnelblick der Nationalisten». Aus der Downing Street verlautete ferner, der von Sturgeon geplante Volksentscheid wäre «spalterisch» und würde «zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt» zu einer «enormen wirtschaftlichen Unsicherheit führen». Gestern legte May vor dem Unterhaus nach und warf Sturgeon vor, «Spiele mit der Verfassung» zu spielen. Diese hingegen argumentiert, durch das Brexit-Votum seien die Karten neu gemischt worden. Sie möchte ein Unabhängigkeitsreferendum, noch ehe das Königreich die EU verlassen hat. May wird dies zu verhindern versuchen.
Unterstützung erhält Sturgeon nun auch aus Nordirland, das auch gegen den Brexit gestimmt hatte. Die katholisch-republikanische Sinn-Fein-Partei, die kürzlich in Neuwahlen deutlich erstarkte, hat eine Volksabstimmung über die Vereinigung mit der Republik Irland gefordert. Die britische Regierung führe Nordirland «gegen den Willen des Volkes» aus der EU, erklärte Parteichefin Michelle O’Neill. Der Brexit sei eine Katastrophe für Nordirland und Irland und werde zu einer befestigten Grenze zwischen den beiden Teilen der Insel führen.
Theresa May lässt sich auch durch die Nordiren nicht beirren. Noch vor Ende des Monats will sie in Brüssel die Austrittserklärung deponieren, wie sie gestern erklärte. May beharrt auf ihrem harten Kurs, auch ohne Rücksicht auf die 48 Prozent der Briten, die gegen den Brexit waren. Aber wird sie ihn auch durchhalten können? Wird sie am Ende riskieren, dass das Königreich zerrissen wird, nicht nur geografisch, sondern auch gesellschaftlich und sozial? Der Austritt ist nicht ein politisches Planspiel, sondern ein gigantisches Projekt mit Folgen nicht nur für Grossbritannien, die noch kaum jemand überblickt. Deshalb wirkt das selbstgefällige Auftreten der Premierministerin bisweilen beunruhigend.
Urs Bader