Die Flucht des Berlin-Attentäters Anis Amri ist zu Ende: Er ist im Mailänder Industrievorort Sesto San Giovanni von der Polizei erschossen worden. Zuvor hatte er selber das Feuer auf zwei Beamte eröffnet.
Dominik Straub/Rom
Es sollte eine Routinekontrolle werden: Eine Streife der italienischen Polizei hat in der Nacht auf gestern um 3 Uhr vor dem Bahnhof des Mailänder Vororts Sesto San Giovanni einen Mann angehalten und um seine Papiere gebeten. Doch statt seiner Dokumente zog der Mann eine Pistole und eröffnete sofort das Feuer auf die Beamten. Der Mann soll «Allahu Akbar» («Gott ist gross») gerufen haben. Bei der Schiesserei wurde einer der Polizisten an der Schulter getroffen, sein 29-jähriger Kollege schoss zurück und traf den Angreifer tödlich.
Auf Amri seien zwei Schüsse abgegeben worden, einer habe den Brustkorb getroffen und sei tödlich gewesen, erklärte der Mailänder Polizeichef Antonio de Iesu später an einer Pressekonferenz. Reanimationsversuche durch die Sanitätspolizei seien erfolglos geblieben. Die beiden jungen Polizisten hätten sich vorbildlich verhalten und seien mutig gewesen. Sie hätten den Mann, der allein über die dunkle Piazza gegangen sei, kontrolliert, weil er ihnen verdächtig vorgekommen sei. Der Polizeibeamte, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, steht erst seit neun Monaten im Dienst und befindet sich noch in der Probezeit. Der verletzte Polizist wurde umgehend operiert und schwebt ausser Lebensgefahr.
Während Stunden war sich in Italien kaum jemand bewusst gewesen, dass in Sesto San Giovanni die Flucht des europaweit gesuchten Berlin-Attentäters Anis Amri beendet worden ist. Bis um 10 Uhr berichteten die Medien lediglich über eine Schiesserei mit einem Toten bei einer Personenkontrolle. Um 10.45 Uhr trat Innenminister Marco Minniti in Rom vor die Presse und gab bekannt, was ein Abgleich der Fingerabdrücke und eine biometrische Vermessung des Gesichts des Attentäters inzwischen bestätigt hatten: Beim Mann handelte es sich um den gesuchten Tunesier. Es bestehe nicht der «Hauch eines Zweifels an seiner Identität», betonte der Innenminister.
Die Polizei geht nun der Frage nach, welche Kontakte der Attentäter möglicherweise in Italien gehabt hat, oder ob er auf ein Terrornetz zurückgreifen konnte. Der Innenminister zeigte sich zuversichtlich, dass sich in den nächsten Tagen neue Erkenntnisse gewinnen liessen. Abgeklärt wird auch, ob es sich bei der von Amri gegen die Polizisten eingesetzten Pistole um die gleiche Waffe handelt, mit der der polnische LKW-Fahrer erschossen wurde, mit dessen Fahrzeug das Attentat in Berlin verübt worden war.
Laut Innenminister Minniti hatte Amri keinerlei Ausweispapiere bei sich, als er gestern erschossen wurde. Doch anhand von Bahntickets, die bei ihm gefunden wurden, konnten die Ermittler zumindest teilweise den Weg rekonstruieren, auf welchem der Attentäter von Berlin nach Sesto San Giovanni gelangt ist. Laut dem italienischen Anti-Terror-Chef Alberto Nobili hat Amri im französischen Chambéry den Zug bestiegen, der ihn über Turin zum Mailänder Hauptbahnhof brachte. Dort ist er nach Sesto San Giovanni umgestiegen, wo er um ein Uhr morgens, zwei Stunden vor seinem Tod, eintraf. Noch unbekannt ist, wie der Attentäter von Berlin nach Chambéry gelangt ist – und in welche Richtung er eventuell weiterreisen wollte.
Laut Anti-Terror-Chef Nobili könnte es sein, dass sich Amri in Richtung Süditalien absetzen wollte. Dort war er während des Arabischen Frühlings 2011 aus Tunesien angekommen – genauer gesagt, auf der Insel Lampedusa, von wo aus er ins Auffanglager in Belpasso in Sizilien verlegt wurde. Bei seiner Ankunft in Italien war Amri noch minderjährig; er fiel den Behörden als renitent und gewalttätig auf. So hat er sowohl in Lampedusa als auch in Belpasso Brände gelegt, Einrichtungsgegenstände zerstört und andere Flüchtlinge geschlagen. Dafür hat Amri vier Jahre in süditalienischen Gefängnissen gesessen, darunter auch im Mafia-Hochsicherheitsgefängnis von Palermo.
Auch seine radikal-islamische Gesinnung blieb den italienischen Behörden nicht verborgen. Amri soll im Gefängnis von Agrigento einem christlichen Mithäftling gedroht haben, ihm die Kehle durchzuschneiden. Nach dem Attentat auf die französische Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo» im Januar 2015 habe er gejubelt und vor Freude mit den Fäusten gegen die Zellentüre getrommelt. Laut dem «Corriere della Sera» haben einzelne Gefängnisse diese Vorfälle auch nach Rom an die Anti-Terror-Behörden gemeldet. Die Gefährlichkeit des radikalisierten Tunesiers wurde aber offensichtlich unterschätzt. Nach der Strafverbüssung ist Amri im Mai 2015 aus der Haft entlassen worden und sollte in sein Heimatland abgeschoben werden. Wie später auch gegenüber den deutschen zeigten sich die tunesischen Behörden aber auch schon gegenüber den italienischen Behörden wenig kooperativ. In der Folge tauchte der entlassene Amri ab.