Der Tod des unbewaffneten 18jährigen Michael Brown, der gestern vor einem Jahr in Ferguson von einem weissen Polizisten erschossen wurde, hat Bewegung in die Rassismusdebatte gebracht.
WASHINGTON. Die Fälle ähneln sich verblüffend. Sie beginnen fast immer mit einer Bagatelle. Jemand geht wie Michael Brown in Ferguson mitten über die Strasse. Oder vergisst wie Sandra Bland in Houston vor dem Wechsel der Spur zu blinken. Eric Garner verkaufte auf Staten Island ohne Genehmigung Zigaretten. John Crawford nahm im Walmart von Dayton unbedacht ein Luftgewehr aus dem Regal. Während Freddie Gray in Baltimore einfach so davonlief, als er einen Polizeiwagen sah. Bei Walter Scott in North Charleston war es ein kaputtes Rücklicht, das ihn verdächtig machte.
Jedes Mal eskalierte die Situation und liess eine unbewaffnete schwarze Person tot zurück. Am Freitag nun auch in der texanischen Stadt Arlington. Erschossen auf der Strasse, im Supermarkt oder auf dem Spielplatz. Erwürgt im Polizeigriff. Misshandelt im Gefangenentransporter. Erhängt in der Zelle. Ein anderer Ort, dieselbe Geschichte – der sinnlose Tod Michael Browns in Ferguson, Missouri, sensibilisierte die Amerikaner für die unangenehme Wahrheit, dass schwarze Leben immer noch nicht richtig zählen – trotz Barack Obama im Weissen Haus.
Eine Untersuchung des US-Justizministeriums vom März dieses Jahres bestätigte, was die Bewohner Fergusons und anderer schwarzer Armenviertel schon lange wussten: Dass Afro-amerikaner überdurchschnittlich oft ins Visier der Ordnungshüter geraten und dabei unfair behandelt werden. Das örtliche Gericht von Ferguson sei nicht viel mehr als ein Geldeintreiber der Gemeinde gewesen.
Ein Jahr danach haben sich in dem Schwarzen-Vorort von St. Louis ein paar Dinge verändert. Die bis dahin ausschliesslich weisse Polizei hat schwarze Neuzugänge und mit Andre Anderson einen Afroamerikaner als Chef. Das örtliche Gericht reaktivierte mit Donald McCullin einen schwarzen Richter, der erstmals seit langem gesunden Menschenverstand walten lässt.
Der Bundesstaat Missouri hilft, die bei den Rassenunruhen zerstörten Geschäfte wiederzubeleben. Die «Urban League» investiert in ein Ausbildungszentrum. Die Nationalgarde richtet einen Posten ein, und Starbucks will in die Gemeinde investieren, die zum Symbol für das strukturelle Unrecht gegenüber der einzigen Bevölkerungsgruppe in den USA geworden ist, deren Vorfahren nicht freiwillig hierhin gekommen sind, um ein besseres Leben zu suchen.
All das hat die klaffenden Wunden nicht vernarben lassen, sondern bestenfalls mit einem Pflaster versehen. Oder wie die demokratische Senatorin des Bundesstaates, Claire McCaskill, vor dem Jahrestag so treffend feststellt: «Das wird nicht über Nacht geschehen. Nicht einmal über 365 Nächte. Es wird Jahre dauern.»
Dennoch bedeutet der Tod Michael Browns eine Zäsur, welche das Selbstbild der Amerikaner verändert hat. Im Jahr 2013 gaben noch mehr als zwei Drittel in Umfragen zu Protokoll, sie fänden die Behandlung der Schwarzen ganz in Ordnung. Heute dagegen denken 53 Prozent, das Land müsse mehr tun, um den Afroamerikanern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Während der Fall Trayvon Martin in Florida die öffentliche Reaktion entlang Schwarz und Weiss noch spaltete, führte die regelmässige Berichterstattung über Polizeigewalt und immer neue Übergriffe zu einem Umdenken unter der Bevölkerung. Dazu trug aber auch das Entstehen einer neuen schwarzen Bürgerrechtsbewegung bei. Sie trägt den bezeichnenden Namen «Black Lifes Matter» (Schwarze Leben zählen) und wird von jungen Aktivisten getragen, die auch an diesem Wochenende in Ferguson wieder zu Protesten mobilisierten.
Mit Ta-Neshisi Coates haben die jüngeren Bürgerrechtler einen sprachgewaltigen Advokaten gefunden, der in seinem Bestseller «Between me and the world» eindringlich beschreibt, wie sehr Polizei und Justiz bis heute als Instrumente der Unterdrückung benutzt werden.
Erstmals fällt auch den Amerikanern auf, dass wohl etwas nicht stimmen kann, wenn in den ersten 24 Tagen dieses Jahres so viele Menschen von der Polizei erschossen werden wie in England in 24 Jahren nicht – und die Schwarzen davon überdurchschnittlich betroffen sind. 2015 töteten die Ordnungshüter bisher neunzehn unbewaffnete Afroamerikaner. Kommt der aktuelle Fall in Arlington hinzu, bei dem allerdings einiges noch ungeklärt ist.
Dass ausgerechnet in der Amtszeit des ersten schwarzen Präsidenten im Weissen Haus die schwersten Rassenunruhen seit den Neunzigerjahren ausbrachen, erweist sich dabei als bittere Ironie der Geschichte. Und straft die Mär von der post-rassistischen Gesellschaft drastisch Lügen. Ein Jahr nach dem Tod Michael Browns in Ferguson ist das Bewusstsein dafür gewachsen.